Hemmersmoor
ins Gesicht.
Käthes Geschrei ließ nicht nach, aber niemand außer meinem Vater, dessen Hand blutete, kümmerte sich mehr um sie. Frau Penck war schmächtig, und wir staunten über ihre unbeholfene Wut. Es sah einfach zu komisch aus, wie die kleine Frau Penck auf Heidrun, die zwei- oder dreimal so groß war wie sie, einschlug.
Frau Penck trug ihren weißen Kittel und eine goldgerahmte Brille; ihre ohnehin schon hohe Stimme kletterte um eine volle Oktave nach oben. »Hure, Hure«, schrie sie. »Wie kannst du nur so durch Hemmersmoor laufen? Wie kannst du nur die Menschen verspotten, die dich und deine Kinder durchfüttern? Du Hure.«
Wir hielten den Atem an. Wir erwarteten, dass Heidrun diese Tirade mit einem Schlag ihrer fetten Arme beenden würde. Doch sie rührte sich nicht, als Frau Penck erneut zuschlug und noch einmal. Sie hielt still, schon bald blutete ihr die Nase und spritzte rote Flecken auf Frau Pencks weißen Kittel. Sie hielt still, bis die Wut und der Arm der Apothekersfrau erlahmten.
Die Frauen standen sich gegenüber, und Frau Penck atmete schwer, während Heidrun ihre Nase mit dem Ärmel des grünen Kleides betupfte. Schließlich fing Frau Penck leise zu weinen an. Heidrun trat vorsichtig näher, und die Apothekersfrau duldete die kleinen, fetten Hände auf ihren Schultern. So standen sie beieinander, und sie beide weinten, bis Frau Penck davonlief.
Als ich beim Abendessen von diesem Schauspiel berichtete, starrte meine Mutter erst mich und dann meinen Vater an und löffelte schweigend und sehr aufrecht sitzend ihre Suppe. Ihr bohrender Blick verhieß nichts Gutes. Mein Vater zuckte mit den Achseln und sagte nichts. Erst Stunden später, nachdem meine Mutter zu Bett gegangen war, kam er zu mir und sagte: »Einige Sachen sind so kompliziert, dass man über sie nicht reden kann. Heidrun hat vielleicht etwas Unrechtes getan, aber wir sollten sie nicht verurteilen ohne …« Hier brach er ab und verließ mein Zimmer.
Die nächsten zwei Wochen sahen wir Heidrun Brodersen nicht. Und wir sollten den grünen Hut überhaupt nie wiedersehen. In jenem langen und sehr heißen Sommer verdarb eine neuartige Stille das Leben in unserem Dorf. Man konnte die Stille spüren, sobald man in die Bäckerei kam und in die Gesichter der Frauen blickte. Man konnte sie in Fricks Krug sehen, wo Peter nun ständig allein hockte, obwohl ein neues Glas Bier vor ihm auftauchte, sobald er das alte geleert hatte. Doch keiner der Männer wollte ihm auf die Schulter klopfen oder sich gar zu ihm setzen. Man musste ja an seine eigene Familie denken.
Die Stille wuchs und quoll wie der Brei in dem Märchen der Gebrüder Grimm, bis sie eines Tages unser Dorf zu ersticken drohte. Frau Penck war nicht die Einzige, die ihrem Ehemann mit misstrauischen Blicken folgte, und die Frauen in Hemmersmoor standen immer häufiger auf der Straße zusammen, und doch gaben sie keinen Mucks von sich. Sie schwitzten, die Mücken fielen über sie her, doch sie blieben stumm.
Aber eines Tages war diese Stille vorüber. Ohne dass sich etwas Neues ergeben hatte, hörten wir Heidruns Namen nun an jeder Straßenecke. Anfangs war es nur wie ein leises Summen, doch jeden Tag wurde es lauter. Sobald wir das Haus verließen, drehten sich alle Gespräche um Heidrun, und die Frauen hielten sich mit ihren Verdächtigungen nicht mehr zurück. Sie tuschelten und bald diskutierten sie lautstark, warum denn Peters Glas stets gefüllt vor ihm stand, und warum Heidrun sich zur Weihnachtszeit nicht im Dorf sehen ließ. Ihre Stimmen waren überall zu hören, und oft wurde Heidruns Name nun in einem Atemzug mit dem von Helga Vierksen genannt, deren Haus wir vor Jahren niedergebrannt hatten und deren ganze Familie auf unserem Friedhof verscharrt lag.
Heidrun ließ sich während dieser Zeit nicht mehr im Dorf blicken. Sie besuchte auch die Bäckerei nicht mehr, stattdessen erledigten ihre Töchter die Einkäufe. Wir Jungen warteten vor den Geschäften auf sie und kämpften um das Recht, ihre vollen Taschen tragen zu dürfen, aber unsere Mütter sahen uns mit hasserfüllten Augen an, und wir hielten uns zurück.
Ich war verzweifelt. Rüdiger, Heikes Freund, ging mit einer Neuen, und meine Stunde schien gekommen. Doch wie sollte ich jetzt an Heike herantreten, ohne den Zorn meiner Mutter auf mich zu ziehen? Nachts lag ich wach und versuchte, mir Mut zuzureden.
Zwei Wochen vor Schulbeginn sahen wir Heidrun Brodersen zum letzten Mal. Der Sommer schleppte sich mühsam
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