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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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für Linde verlor, so nahm meine Zuneigung zu ihr noch zu. Vor ihren flehenden Augen öffnete ich meine Schatztruhe und berichtete von meinen Abenteuern. Ich hängte mir die Küsse der Jungen wie Juwelen um den Hals.
    Als Ernst mich im Juli zum Tanzen einlud, kaufte mir meine Mutter ein himmelblaues Kleid und weiße Schuhe. Sie war aufgeregter als ich, ich war schließlich ihre einzige Tochter. Freitagnacht flocht sie mir das Haar, zog neue Strümpfe aus ihrer Kommode und strich mir Rouge auf die Wangen und umrandete meine tränenden Augen mit Kajal.
    Eine Fremde starrte mich aus dem Spiegel an Mutters Bettseite an, jemand, der lachhaft und gleichzeitig atemberaubend aussah. Ich stand entsetzt im Schlafzimmer meiner Eltern. Ich fürchtete, dass ein falscher Schritt oder eine plötzliche Bewegung die Erscheinung im Spiegel zerstören könnte. Wenn es mir möglich gewesen wäre, hätte ich mein Herz angehalten.
    Meine Mutter umarmte mich vorsichtig und küsste meine Hände. Sie war sehr dünn, hatte einen leichten Rundrücken, ihr Gesicht war verhärmt. Doch unser Haar hatte denselben dunkelbraunen Glanz. »Vergeude deine Zeit nicht mit hübschen Gesichtern«, flüsterte sie eindringlich. »Sei klug. Nur ein Mann, zu dem du aufschauen kannst, lohnt die Mühe. Lass dich nicht von ihrem Aussehen blenden, Schönheit verfliegt. Dein eigener Vater sah nicht nach arg viel aus, aber er weiß für eine Familie zu sorgen.«
    »Ernst kommt aus einer guten Familie«, sagte ich. »Er möchte Arzt werden, genau wie sein Vater.«
    »Schön«, sagte meine Mutter. »Aber sieh dich vor. Wenn er nach seinem Vater kommt, wird er auf dich herabschauen. Dein Vater hat keinen Schulabschluss, er ist ein Bauer. Heute siehst du hübsch aus, heute mag er denken, dass er in dich verliebt ist. Aber er wird das Dorf verlassen und weißt du, ob er dich mitnehmen wird?«
    »Er hat mich gern«, sagte ich.
    »Wir werden sehen, wie gern er dich hat. Lass dich auf nichts ein. Du wirst nichts mehr wert sein, wenn er gleich bekommt, wonach ihm der Sinn steht.«
    Die Ermahnungen meiner Mutter beunruhigten mich, obwohl sie hohl klangen. Diese Person, die mit ihrem blauen Kleid und den weißen Schuhen im Spiegel stand, konnte alles haben und alles geben. Nichts war zu gut für sie, nichts konnte ihr vorenthalten werden.
    Bevor Ernst mich abholte, kam Linde zu uns nach Hause. Sie strahlte mich an. »Oh, du siehst so hübsch aus«, sagte sie und trat von der Tür zurück, um mich anzuschauen. »Anke, du siehst … alt aus.« Sie kicherte, und ich musste lachen. »So ganz erwachsen. Und schau mich nur an«, fügte sie hinzu. »Ich bin das hässliche Entlein.« Das Licht in ihren Augen verdunkelte sich für einen Moment, bevor es wieder hell aufschien. »Aber weißt du was? Ich werde nächstes Jahr aufs Groß Ostensener Gymnasium gehen.«
    Ich ergründete diese Neuigkeit hinter einem Lächeln und versuchte zu entscheiden, ob ich sie ohne Bitterkeit zu schlucken vermochte. »Dann hast du also das Stipendium bekommen?«, sagte ich, um Zeit zu gewinnen.
    »Ja. Herr Brinkmann hat mich den von Kamphoffs empfohlen, und ich werde nächste Woche zu einem Gespräch aufs Gut hinausfahren. Wenn ich einen guten Eindruck mache, sagt Herr Brinkmann, werden sie für meine Bücher und Kleider bezahlen, bis ich das Abitur mache.«
    »Dein Vater hat es wirklich verdient«, sagte ich.
    Ein Schatten zog ihr übers Gesicht. »Er dachte, ich würde es nicht bekommen.«
    »Warum denn?«
    »Ein andermal«, sagte sie und sah schnell zu meiner Mutter hinüber, die hinter mir in der Tür stand.
    »Wunderbar«, sagte ich. »So werd ich dich also bald verlieren.«
    »Unfug. Ich werde doch im Dorf wohnen bleiben. Und du wirst viel zu viel mit den Jungen zu tun haben, um mich zu vermissen.« Sie zwinkerte mir zu und rannte davon. »Hab viel Spaß heute Nacht.«
    Am Ende des Abends war Linde ganz vergessen. Die seltsame Person, die meine Mutter in ihrem Schlafzimmer erschaffen hatte, war ein Erfolg, und als mich Ernst nach Mitternacht nach Hause begleitete, zog er mich auf den Spielplatz unserer Schule und hob mich auf eine der Schaukeln. Seine Finger krabbelten wie Tausendfüßler an meinen Beinen hinauf und kitzelten mich, dass ich lachen musste.
    »Bin ich ein Trottel?« Seine Stimme war plötzlich ganz flach und leise.
    Ich sprang von der Schaukel. »Albern bist du«, sagte ich, ohne nachzudenken. Ich verstand meine Rolle auch Proben.
    »Kann ich es noch einmal versuchen?«, fragte

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