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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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voran, alle im Dorf schienen auf einen Sturm oder ein Gewitter zu warten und blickten jeden Tag in den Himmel, der niedrig und schwefelgelb über dem Dorf lag und nicht aufbrechen und sich über uns ergießen wollte.
    Aber niemand war auf die vier uniformierten Polizisten gefasst, die eines frühen Morgens mit meinem Vater das Haus der Brodersens betraten und Heidrun verhafteten. Schon bald war das ganze Dorf auf den Beinen und versammelte sich auf der Straße. Die Menge lachte, als Heidrun in Handschellen abgeführt wurde, manche verhöhnten sie lauthals, doch niemand verstand so richtig, was vor sich ging, als die Polizeibeamten in Heidruns Garten traten.
    Sie leerten die Blumentöpfe, einen nach dem anderen, in die wir Jungen noch im vorigen Winter gepinkelt hatten, rissen die Rosenstöcke heraus und wühlten in der Blumenerde herum. Das Dorf hielt den Atem an, und gegen Mittag lagen neun kleine Skelette fein säuberlich geordnet und aufgereiht am Boden.
    Alle im Dorf gaben sich entsetzt. Und niemand sprach mit der Polizei. Wir gaben nichts preis.
    »Die Kinder waren alle von Peter, jedes einzelne«, sagte meine Mutter eines Abends in die Stille am Abendbrottisch. »Das hat sie den Beamten erzählt. Warum sollte sie lügen, in so einem Fall?« Ihre Stimme war schrill, und sie sprach viel zu laut. Es war ihr wichtig. Mein Vater nickte.
    Zwei Tage bevor die Polizei in unser Dorf kam und mit Vater zum Haus der Brodersens fuhr, hatte ich mir endlich ein Herz gefasst und Heike zum Tanz eingeladen. Mir war vor Nervosität so übel, dass meine Stimme viel zu schroff klang, aber ich brachte die Worte in einem Rutsch und ohne zu stottern heraus. Davon selbst überrascht, wartete ich mit weit aufgerissenen Augen auf ihre Antwort.
    Zwei Tage nach der Verhaftung ihrer Mutter verließen sie, ihr Vater und ihre Schwestern das Dorf in Richtung Hamburg. Es hieß, dass Peter einen Vetter in der Stadt hätte, der ihm Arbeit auf einer Werft verschaffen würde. Christian und ich gingen an jenem Nachmittag zur Droste hinunter und warfen Steine in das brackige Wasser. Immer größere Steine gruben wir aus dem Matsch und schleuderten sie fort, und fast traf ich Christian mit einem besonders großen Stein, weil ich vor Tränen nichts mehr sehen konnte.
    Heike hatte etwas gezögert, bevor sie Ja sagte, und dann hatte sie die Augen zusammengekniffen, und ein Lächeln hatte ihre Lippen geöffnet. Ich hatte auf diese kleine Öffnung geschaut und war von einer ganz neuen, noch undeutlichen Angst ergriffen worden. Ich hatte meinen Eltern mit dem Tanz in den Ohren gelegen, ohne ihnen zu erzählen, welches Mädchen ich gefragt hatte, und sie hatten schließlich eingewilligt, mir einen neuen Anzug zu kaufen. Ich hatte die ganze Nacht wachgelegen und mich gefragt, wie ich Heikes Herz gewinnen sollte, ohne jemals einen Fuß auf den Tanzboden gesetzt zu haben.
    Doch ich trug den Anzug nicht ein einziges Mal in jenem Sommer und auch nicht im folgenden Herbst, und im nächsten Jahr war er mir bereits zu klein geworden. Im rechten Arm war irgendwann ein Mottenloch.

ANKE
    Linde und ich hatten als Kinder Matschkuchen in der Sandkiste hinter unserem Haus gebacken. Als Fünfjährige hatten wir auf unserer alten Mähre reiten gelernt, und ein Jahr später waren wir zusammen eingeschult worden. Ich liebte sie so sehr, dass ich als Kind, anstatt in den Spiegel zu schauen, Linde anblickte, um mich zu sehen. Wir waren fünfzehn, als im Frühling der Fluch der unseligen Bettelfrau das Dorf heimsuchte und Neugeborene und junge Kinder tot aufgefunden wurden.
    Lindes Gesicht war seit einem Missgeschick vor zwei Jahren von feinen Narben entstellt, die ihr Gesicht glühen ließen, wenn sie im Garten arbeitete oder zornig wurde. Doch sie hatte grüne Augen, die sogar im Dunkeln voller Licht schienen. Ihre Nase war groß und wohlgeformt, und ihr Haar schimmerte kastanienbraun. Sie war eine gute Schülerin, und ihr Vater, der sich auf dem Gut der von Kamphoffs um die Gärten kümmerte, sagte jedem, der es hören wollte, dass sie es einmal weit bringen würde.
    Nur die Jungen im Dorf wurden zuerst auf mich aufmerksam und sprachen mich zuerst an. Meine Eltern nannten mich hübsch, Jens Jensen warf mir Kusshände zu, wenn ich an ihm vorüberging, und an dem Abend, als Ernst Habermann mich hinter dem Haus meiner Eltern küsste, dämmerte es mir, dass ich meiner Freundin entwachsen war. Ich hatte neue Reichtümer entdeckt. Aber wenn ich auch meine schwesterlichen Gefühle

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