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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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er.
    »Vielleicht.« Ich rannte auf die Straße. Ernst holte mich vor dem Haus meiner Eltern ein und drückte mir einen Kuss in den Nacken. Ich hatte gewonnen, aber meine Kräfte hingen von dem Jungen ab, der sie mich haben ließ. Ich war gespannt auf das, was kommen würde.
    *
    Am Mittwoch drauf bat Linde mich, sie zu ihrem Gespräch im Großen Haus zu begleiten. Ich willigte ein und freute mich darauf, einen Blick ins Gutshaus werfen zu können. Seit ich ein kleines Mädchen gewesen war und mit Puppen gespielt hatte, war ich nicht mehr zu den von Kamphoffs hinausgefahren. Ich musste Mutter hoch und heilig versprechen, ihr später alles genauestens zu beschreiben. Wie sah die neue Herrin des Gutes aus? Was trug sie? War sie noch immer eine dumme Trine?
    Das ganze Dorf war im Frühjahr zur Hochzeit von Rutger von Kamphoff und Anna Frick eingeladen worden, doch meine Eltern hatten Fricks Krug seit Broders Tod nicht mehr betreten und waren auch zu dieser Gelegenheit nicht erschienen. »Die von Kamphoffs hätten sie nicht einmal zur Hintertür eingelassen«, sagte meine Mutter, »wenn ihr der Rutger nicht den Bauch vollgemacht hätte. So ein abgefeimtes Luder.« Sie hatte recht. Annas Bauch war so angeschwollen, dass sie in ihrem weißen Kleid ganz unmöglich aussah und nicht einmal recht mit dem Bräutigam tanzen konnte. Der alte Frick hatte sich aber nicht lumpen lassen und die größte Hochzeit ausgerichtet, an die sich die Leute in Hemmersmoor erinnern konnten. Jedes Mädchen im Dorf hätte ihre Seele an den Teufel verkauft, um Annas Platz an Rutgers Seite einzunehmen.
    Der Chauffeur der von Kamphoffs holte uns bei Linde zu Hause ab. Die Kinder auf der Straße gafften uns an und zeigten auf uns. Es geschah nicht oft, dass so ein Auto durch unser Dorf kam. Linde war stolz und nervös und biss sich auf die Lippen, bis ich sie dafür ausschimpfte. Blut tropfte auf das Taschentuch, das ich ihr reichte.
    »Was hast du zu befürchten?«, fragte ich. »Dein Vater hat ihnen treu gedient.«
    »Das ist es ja gerade.« Wieder huschte ihr ein Schatten übers Gesicht. Und dann erzählte sie mir, wie sie vor zwei Jahren den wahren Erben der von Kamphoffs im Labyrinth gefunden hatte und dass ihr Vater entlassen worden war, nachdem sie ihm alles gebeichtet und er die von Kamphoffs informiert hatte. »Und erst nach zwei Wochen haben sie ihn wieder eingestellt«, sagte Linde. »Er fürchtet, dass sie die Geschichte nicht vergessen haben.«
    »Der wahre Erbe? Dann sind die Geschichten nicht erlogen?«, fragte ich.
    »Du darfst niemandem davon erzählen. Auch deiner Mutter und deinem Vater nicht. Schwör es mir.« Ihr Gesicht verfinsterte sich, ihre Narben färbten sich hellrot. »Absolut niemandem.«
    »Dein Gesicht…«, sagte ich. »Ist das…kommt das…?«
    »Schwör es mir!«, fuhr sie mich an, ohne meine Frage zu beantworten.
    Ich schwor, und sie schien sich etwas zu beruhigen. Doch wir schwitzten auf den Ledersitzen und waren zu eingeschüchtert, um den Fahrer zu bitten, die Fenster zu öffnen. Er war ein junger Mann – wir hatten ihn noch nie gesehen – und er trug eine Uniform, die so schwarz wie das Auto war, und eine beschirmte Mütze.
    Die letzten hundert Meter schien die Limousine aufs Große Haus zuzugleiten. Das Gut lag auf dem Hügel, den der Riese Hüklüt zurückgelassen hatte, als er im Moor versunken und gestorben war. Obwohl wir wussten, dass es nur eine Legende war, machte es das Gutshaus noch beeindruckender. Das Gebäude war größer als unsere Schule, größer noch als unsere Kirche, und die Ziegel waren gelb gestrichen. Und ganz so, als ob wir hohe Herren wären, wurden wir zum Vordereingang hinaufgefahren. Der Fahrer stieg aus und öffnete uns die Türen.
    An der Treppe wurden wir von einer alten Frau in einer Dienstmädchenuniform begrüßt, die uns versicherte, dass unsere Gastgeber sich bald zu uns gesellen würden. Sie führte uns die Stufen zum Eingang hinauf, dessen Flügeltüren höher als das Haus meiner Eltern schienen. Von der Eingangshalle geleitete sie uns in einen Raum, der wohl als Wartezimmer diente. Meine drei Brüder hätten einander auf die Schultern klettern können, ohne die Decke zu berühren, und das Zimmer war vier- oder fünfmal so groß wie die gute Stube meiner Eltern. Licht strömte durch die mannshohen Fenster.
    Sobald das Dienstmädchen uns verlassen hatte, öffnete sich eine Tür am anderen Ende des Zimmers, und Anna Frick, die nun Frau von Kamphoff war, trat mit ihrer

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