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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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Tochter im Arm ein. Sie schien durch unsere Anwesenheit verwirrt zu sein, und einige Augenblicke lang starrte sie uns an, als ob wir Geister wären. Ihr Hemd stand offen, und ihre kleine Tochter brabbelte herum.
    »Du meine Güte«, sagte Anna. »Oh, oh. Ich glaube, ich, verdammt … Ich dachte nicht … weiß Rutger …?« Dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, das runder war, als ich es in Erinnerung hatte, und teigig wirkte. »Sieh mal an, Linde und Anke. Ihr seid für das Gespräch hier?«
    Linde machte einen Knicks, als ob wir nicht alle zusammen die gleiche Schule besucht hätten. »Guten Tag, Frau von Kamphoff.«
    Aller Ausdruck wich aus Annas Gesicht, bis es plötzlich vor Lachen explodierte. »Ich bin’s, Mädchen, erinnerst du dich nicht mehr an mich?« Sie trat auf uns zu und schaukelte ihr Kind in den Armen. »Sie hat gerade getrunken«, erklärte sie. »Ich warte auf ihr Bäuerchen.« Sie drehte sich zur Seite, wie Mütter es gerne tun, um uns einen guten Blick auf das Mädchen zu geben. Die Kleine hatte dünnes, blondes Haar und ein Gesicht, das einer Kartoffel glich. Meine mütterlichen Instinkte waren noch nicht erwacht, und ich fand es schwer zu begreifen, warum Lindes Gesichtsausdruck sich wandelte, und ihre Augen strahlten, als ob sie einen himmlischen Schatz erblickt hätte.
    »Wie reizend«, rief sie aus.
    »Ist sie nicht entzückend?« Anna blickte auf ihre Tochter hinab, und ihr Gesicht nahm etwas von ihrer alten Schönheit an. »Möchtest du sie halten? Charlotte, sag Hallo.«
    Ich bemerkte erst, dass Anna zu mir und nicht zu Linde gesprochen hatte, als sie mir das Baby in die Arme zwang. Ich sah mir das kleine Bündel an und wiegte es ganz so, wie Anna es getan hatte, und das Kind streckte die Arme aus und quietschte.
    »Sie ist eine solche Herzensbrecherin«, lachte Anna mit offensichtlichem Vergnügen. »Sie würde sogar die Bettelfrau bezaubern.« Schnell hielt sie sich eine Hand vor den Mund. »Ich sehe mich besser vor«, flüsterte sie. »Das Dorf ist ganz beunruhigt, nach dem, was den Kindern zugestoßen ist.«
    Die Bettlerin und der Fluch, mit dem sie die Kinder in Hemmersmoor belegt hatte, war seit Winterende in aller Munde. Viele junge Mütter waren um ihren Nachwuchs besorgt. »Es ist einfach schrecklich«, sagte Linde.
    Anna seufzte und wechselte das Thema. »Ich sehe überhaupt niemanden mehr. Mit dem Baby und den feinen Leuten, die aus Bremen herüberkommen, und den Soireen. Dieses Haus scheint überhaupt nicht zu Hemmersmoor zu gehören. Es ist seine eigene kleine Welt. Wir machen unsere eigene Zeit hier – aber habt keine Sorge, ich gehöre noch nicht ganz zu ihnen.« Sie sprach von ihrem neuen Zuhause mit einer leisen Stimme, als ob uns jemand belauschen könnte. Ihre Füße waren nackt und rosafarben. »Lasst mich Rutger holen gehen«, sagte sie schließlich und schritt in die Halle hinaus.
    Ich hielt Charlotte noch immer in den Armen, und ich habe mich seitdem oft gewundert, warum Anna ohne ihr Kind fortging. War sie eine schlechte Mutter? Oder handelte sie einfach leichtsinnig und ohne nachzudenken? Ich komme stets zum gleichen Schluss, dass ihre Gedankenlosigkeit gar nichts bedeutete. Sie kannte uns gut, wir kamen aus demselben Dorf. Wir kamen alle aus Hemmersmoor und waren dazu bestimmt, Mütter zu werden. Anna hatte sich nicht ausmalen können, dass Charlotte nach meiner Brust greifen und an meiner Kette ziehen und ich aufschreien und loslassen würde. Charlotte fiel zu Boden.
    Linde erschrak, bückte sich dann schnell und griff das Kind, das sofort zu schreien anfing. Je mehr Linde versuchte, es zu beruhigen, desto lauter schrie es. Schon bald erschien das alte Dienstmädchen in der Tür, hinter ihr Rutger von Kamphoff und Anna.
    »Ach, ach, was hat denn mein kleiner Liebling?«, gurrte sie. »Sieh doch, ich bin schon wieder da.« Anna nahm das Kind entgegen und wiegte es sanft. Doch das Geschrei wurde nur noch lauter. Anna trug ihre Tochter zu einem Tisch, der vor den großen Fenstern stand und sang: »Bist du nass, meine kleine Charlotte, bist du nass?«
    Ich dachte, dass der Schrecken vorbei sei, und begann aufzuatmen, aber gerade, als sich Rutger zu Linde umwandte, um sich vorzustellen, schrie Anna: »Was ist passiert?« Als ob jemand sie gebissen hätte, wich sie vor ihrem Kind zurück. Charlottes Arm baumelte in einem seltsamen Winkel an ihrer Seite.
    »Was habt ihr mit ihr gemacht?« Anna drehte sich zu uns um, sie verlangte eine

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