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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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Antwort.
    Was ich als Nächstes tat, änderte, wer ich gewesen war und wer ich sein würde. Ich brach in Tränen aus und dachte an Ernst Habermann, wie er käme, um mich zum Tanz abzuholen. Würde ich ihm erzählen, was passiert war? Und wie würde ich meiner Mutter das Große Haus beschreiben, ohne zu erwähnen, wie ich Schande über mich und uns gebracht hatte? Ich sah bereits, wie sich ihr Gesicht vor Enttäuschung verdunkelte.
    Als meine Lippen sich endlich öffneten, um Worte für meine Sünde zu finden, erschien nur ein einziges Wort klar in meinem Geist. Nur ein einziges, und ein dunkler Instinkt raunte mir zu, dass es das rechte war. »Linde …«, sagte ich, dann nichts mehr.
    *
    Ob ich versuchte, auf unserer Heimfahrt mit Linde zu reden, oder ob sie zu mir sprach, kann ich nicht sagen. Es scheint mir, dass wir sehr lange im Fond der Limousine saßen, in vollkommener Stille. Ich starrte aus dem Fenster und ließ meinen Blick nicht zu meiner Linken schweifen, wo Linde tief in ihre Ecke gesunken war.
    Ich habe vergessen, wen wir überholten oder wer auf dem Moor und in den Feldern arbeitete. Ich erinnere mich nur an das gelbe Licht, das so zähflüssig wie Honig war, und an meine Beine, die an den Ledersitzen festklebten. Ich erinnere mich an die Heimfahrt, als ob wir zugleich viel zu schnell fuhren, zu schnell, dass ich auch nur einen Gedanken festhalten könnte, obwohl es auf unseren Feldstraßen kaum möglich war, schnell zu fahren.
    Linde hatte nicht protestiert, zu natürlich war meine Reaktion gewesen. Alles, was sie zu ihrer Verteidigung hätte sagen können, hätte falsch geklungen, hätte ihre Lage nur verschlechtert. Sie hatte ihre Schuld schweigend akzeptiert. Im Wagen der von Kamphoffs ängstigte mich dieses Schweigen, aber es fiel mir nicht ein, mich zu entschuldigen.
    Ich wurde zu Hause abgesetzt, der Chauffeur hielt mir die Tür auf. Linde sah mich nicht an. Ich lief am Abend zu ihrem Haus hinüber, aber ihre Mutter sagte, dass sie schon schliefe. Linde mied mich den Rest des Sommers, und während mein schlechtes Gewissen langsam von Ernsts Liebesbezeugungen überlagert wurde, gab ich mich der Rolle einer Erwachsenen hin. Die Liebe fühlte sich gut an.
    Und doch hätten Linde und ich womöglich wieder Freundinnen werden können, wäre im Herbst nicht etwas Einschneidendes passiert. Im Oktober nahm mich Herr Brinkmann zur Seite und sagte, dass ich das Stipendium der von Kamphoffs erhalten würde. Rutger selbst war es gewesen, der mich vorgeschlagen hatte. Er vertraute Herrn Brinkmann an, dass meine ehrliche Anteilnahme am Versagen meiner Freundin und an Charlottes Unglück ihn berührt habe. Er hatte meine Zeugnisse zu sehen verlangt und sah in mir die ideale Kandidatin. Hier brach Herr Brinkmann ab und räusperte sich und schwieg dann. Ich brauchte das strahlende Gesicht meiner Mutter nicht zu sehen, um in dem Schweigen meines Lehrers größere, noch ungedachte und ungesagte Versprechen zu hören.
    Ich nahm das Stipendium an. Es war für Linde verloren; ich sah keinen Nutzen, es abzulehnen.

LINDE
    Das neue Jahr zwang Hemmersmoor in die Knie und fror die Droste ein, sodass die Torfstecher die vielen Kanäle des Moores nicht befahren konnten. Im vorigen Sommer war Heidrun Brodersen verhaftet worden, und ihr Haus stand noch immer leer. »Eine Kindsmörderin«, hatten die Leute im Dorf anfangs gejammert. »Wer hätte das wissen können?« Doch mittlerweile hatten sie ein neues Thema gefunden und fragten sich, wer Heidrun wohl verraten haben mochte. Klaus Schürholz habe sie preisgegeben, sagten einige, um seine Frau zum Schweigen zu bringen. Zumindest zwei der neun toten Kinder waren die seinen. Auch um Rosemarie Penck ging es in diesen Gesprächen. Sie war es gewesen, die Heidrun auf dem Dorfplatz ins Gesicht geschlagen und sie eine Hure geschimpft hatte. Es musste die Frau des Apothekers gewesen sein. Sie war die Verräterin. Wann immer meine Mutter und ihre Freundinnen diese Frage erörterten, nickte ich still vor mich hin. Rosemarie Penck. Natürlich. Keine Frage.
    Dieselben Freundinnen berichteten uns auch, dass man nachts Geräusche aus Heidruns Haus hören könnte, und unsere Nachbarn wollten Lichter im oberen Stockwerk gesehen haben. Ich lachte die Frauen aus, mein Hals fühlte sich eng und rauh an. Es konnte nicht sein. Wie konnten sie solchen Gerüchten Glauben schenken? Ich schenkte den Gerüchten keinen Glauben. Ich wollte ihnen keinen Glauben schenken.
    Die Tochter unseres Nachbarn,

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