Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
noch mal Rotwein einzugießen und hab mit Holger weitergetanzt, und da wurde Ernst sehr streng und sagte: ›Hendrikje, es reicht jetzt! Alle hier am Tisch wollen jetzt den Nachtisch essen!‹
Alle setzten sich, und auch Holger, der mit mir auf unserer kleinen improvisierten Tanzfläche stand, ging zum Tisch, denn er isst ja so gerne Eis. Ich bin auf der kleinen Tanzfläche stehen geblieben und habe die Musik ganz leise gedreht und habe gesagt: ›Leute, ich muss euch leider enttäuschen, aber ich will nicht mehr sterben. Mir geht es
so gut
, es ist alles
so schön
, und ihr seid alle
so nett
zu mir – das Leben ist schön!‹
Holger nickte und war schon dabei, sein Sorbet zu essen und rief fröhlich: ›Mein Gott, jetzt hat sie’s!‹
Lisa und Sophie dagegen saßen stumm und konzentriert am Tisch, sahen sich mit Leidensmienen an und löffelten mit abgespreizten kleinen Fingern ihre Sorbets.
Ich glaube, Holger war der Einzige, den meine Umentscheidung freute. Ernst stand hinter meinem Stuhl, über dem meine Jacke hing, und sagte: ›Komm, Hendrikje, jetzt werd nicht kindisch. Lass uns erst mal essen jetzt.‹
›Ich will aber tanzen!‹, rief ich und ich drehte die Musik wieder laut und fing an, mich dazu zu bewegen. Aber da kam Ernst und stellte die Musik ganz aus.
›He!‹, hab ich zu ihm gesagt, ›soll’n das!?‹
Ernst nahm mich vorsichtig am Arm, aber ich machte mich los und er sagte: ›Das schmilzt doch nur, das Zeug.‹
›Das ist mir egal‹, sagte ich, und: ›Du hast hier sowieso nix zu bestimmen! Auch nicht, wer mein letzter Lover ist und so’n Zeug!‹
Ich fing plötzlich an, mich tierisch aufzuregen über Ernst. Ich weiß auch nicht wieso, das war der Alkohol. Also musste ich weitermachen und ich hab zu ihm gesagt: ›Ich hab jedenfalls vor drei Tagen mit einem gevögelt, ach was red ich,
Liebe gemacht
hab ich mit dem, Ernst, da tun sich Welten auf, die kannst du nicht mal buchstabieren!‹ Ich bin zum Plattenspieler und hab den wieder laut gedreht, aber Ernst ging hin und hat ihn ausgestellt.
Totenstille im Raum. Ich sehe, dass Lisa und Sophie mit genervt-gleichmütigen Mienen ihr Sorbet essen und dass Holger am Tisch sitzt und feixt. Ihm gefiel das. Er hatte sein Sorbet schon aufgegessen, schaute mich an, grinste und zeigte wieder wie damals im Café fragend auf
mein
Sorbet, das unberührt an meinem Platz stand und vor sich hin schmolz. Auf diese stumme Weise hatte er auch damals im Café gefragt, ob er mein Eis essen dürfte, mit dieser komischen Grimasse, die besagen sollte:
Ich weiß, dass ich ein Vielfraß bin, aber wenn du es nicht haben willst, wäre es doch schade, wenn das Zeug umkommt
.
Ich hab Holger angelächelt und ihm zugenickt und ihm damit mein Sorbet geschenkt, und dann hab ich mich wieder zu Ernst umgedreht und gesagt: ›Du bist nämlich alles andere als mein letzter Lover, du bist der vorletzte und der allerletzte, aber der letzte, der bist du eben nicht!‹
Lisa sagte sehr lässig und scheinbar gelangweilt: ›Dieter.‹
Ernst wollte mich schon wieder am Arm packen, aber ich hab ihn weggeschubst, und er ließ das zu und machte keinen neuen Anlauf, und dann hab ich zu Lisa gesagt: ›Nee, nicht Dieter‹, denn ich wollte ihm auf keinen Fall Unannehmlichkeiten bereiten, ›sondern einer der beiden Handwerker, die Ernst neulich angeschleppt hat, der, der die Kacheln getragen hat, der Blonde, der ist später noch mal wiedergekommen, weil er seinen Schlüsselbund bei mir verloren hatte.‹ Ich drehte mich ein bisschen um, damit Ernst auch kein Wort verpasste und sagte: ›Dachte er jedenfalls, später war klar, dass das nur ein Vorwand war. Er hat das auch zugegeben, er hat gesagt, ich hätte süß ausgesehen, mit meinen nassen Füßen unter dem Bademantel, das hätte ihn angemacht. Und er war sehr charmant und er war eine Gra.na.te. im Bett, darauf kannst du wetten.
Nicht Dieter
.‹
Ernst war sprachlos, und ich dachte: Scheiße, gleich fragt er mich, wie denn der Handwerker geheißen hat, und das weiß ich nicht. Aber da gab es einen dumpfen Knall und Holger war mit seinem Stuhl umgefallen. Der Stuhl lag auf dem Rücken am Boden und auf ihm Holger, ganz unverändert, genau so, wie er am Tisch gesessen hatte, bloß tot. Ja, er war tot, das war eindeutig.«
Die Palmenberg fasst sich entsetzt ans Dekolleté: »Holger …?«
»Ja. Holger. Mein guter Freund Holger.«
»Ach du lieber Gott.«
»Ja.«
»Der Einzige, der mit der ganzen Aktion nicht einverstanden war
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