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Hendrikje, Voruebergehend Erschossen

Hendrikje, Voruebergehend Erschossen

Titel: Hendrikje, Voruebergehend Erschossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Purschke
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ich habe nie Autofahren gelernt, und ich wollte jetzt auch nicht viel Zeit damit vertrödeln, in Ernsts und Holgers Taschen nach deren Autoschlüsseln zu suchen, um es auszuprobieren. Aber da war ja noch das Fahrrad. Es war rostig und hatte zwei platte Reifen und keine Luftpumpe, und wie ich zu Beginn des Abends gehört hatte, funktionierten die Bremsen nicht, aber das war mir jetzt egal. Ich hab es mir geschnappt und bin losgeeiert mit dem Rad, runter vom Hof und auf die Landstraße.
    Ich bin auf diesem Fahrrad ohne Licht in schwarzer Nacht von Schleswig-Holstein zurück nach Hamburg geeiert, es waren wohl gute fünfzig Kilometer, und es war kalt, ach was sage ich, es war mehr als kalt. Es war nasskalt und eisig, und ich hatte nicht einmal eine Jacke an und mit diesem platten Rad konnte ich nicht mal schnell genug fahren, als dass mir warm davon geworden wäre.
Es war immer noch dunkel, als ich den Stadtrand von Hamburg erreichte, und da hab ich das Rad an der ersten S-Bahn -Station stehen lassen und bin mit der Bahn in die Stadt reingefahren. Ich war blau gefroren, ich konnte mich kaum bewegen, die Leute in der Bahn haben mich mit angewiderten Gesichtern angeguckt, weil ich wohl wie ein Junkie aussah, aber mir war’s egal. Ich dachte: nur schnell heim und in meine Wohnung, da kann ich ein heißes Bad nehmen.
    Erst als ich vor der verschlossenen Haustür stand, fiel mir ein, dass ich ja gar nicht reinkonnte, weil ich Ernst die Schlüssel gegeben hatte, und dass es sowieso nicht ratsam wäre, in meine Wohnung zu gehen, denn wenn die sich in Schleswig-Holstein befreit haben würden, würden sie mich hier zuerst suchen. Ich dachte: Ich muss ins Café, ab neun Uhr ist da jemand, entweder Goebbels oder eine Kollegin, und die müssen mir helfen.
    Es ging jetzt auf acht Uhr zu, und weil es kalt war, bitterkalt, dachte ich, ich fahre zum Bahnhof, da ist es warm, da warte ich, bis das Café aufmacht. Also bin ich zum Bahnhof und lief in der Wandelhalle herum, ich konnte aber in keins der Cafés gehen, weil ich wusste, dass ich wie ein Junkie aussah, blau gefroren und zerschrammt, und wenn man da nichts bestellt, fliegt man eh’ gleich raus, und mein restliches Geld war in meiner Jacke, die über dem Stuhl in Lisas Esszimmer in Schleswig-Holstein hing.
    Ich drückte mich also in der Wandelhalle ’rum und war plötzlich so erschöpft, dass ich mich an ein Schaufenster anlehnte und merkte, ich schlafe gleich ein. Es war das Schaufenster eines Blumenladens und sofort kam die Blumenfrau raus und scheuchte mich weg, was wohl ein wenig Aufmerksamkeit der Passanten auf sich zog, und so kam es, dass ein Typ, von dem ich gerade noch sah, dass er an einem Kiosk einen Stapel Tageszeitungen kaufte, das mitkriegte und auf mich zukam. Ich konnte schon fast nicht mehr gucken, ich glaube, ich stand kurz vor einer Bewusstlosigkeit, als der Typ auf mich zukam. Ich weiß noch, dass ich dachte: Das ist ja der Weihnachtsmann, denn er hatte einen Mörderbart im Gesicht und eine Felljacke an, so ’ne Alt-68er-Felljacke. Die hat er dann ausgezogen und mir um die Schultern gelegt, und da hab ich ihn plötzlich erkannt, es war nämlich«– Hendrikje stöhnt und wirft sich gequält in ihrem Sessel hin und her – »Bruno. Und dann war ich weg.«
»Was heißt das, Sie waren weg?«
    »Ich weiß es nicht. Ab da kann ich mich erst mal an nichts mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich träumte, ich müsste im Café die Spülmaschine ausräumen: Ich stapelte die heißen Cappuccino-Untertassen übereinander, immer mehr und immer mehr. Es klapperte laut und schrill, und die Spülmaschine wird einfach nicht leerer. Immer mehr Cappuccino-Untertassen stehen in der Maschine, die ich immer schneller ausräumen muss, und ich verbrenne mich an dem heißen Porzellan. Ich türme Berge von Untertassen auf den Tresen, immer schneller, und der Lärm, den das macht, ist unerträglich.
    Irgendwann wachte ich auf. Ich lag in einem Bett, das nicht meins war, in einem fremden, sehr dunklen Zimmer. Da war ein Schrank, eine Kommode, ein Stuhl, und auf dem Schrank, auf der Kommode, auf dem Stuhl und auf dem Fußboden lagen Bücher in hohen Stapeln. Meine Anziehsachen konnte ich nirgendwo sehen, und als ich nachschaute, hatte ich einen warmen Flanell-Schlafanzug an und unter dem meine eigene Unterwäsche, und in meinem BH steckte immer noch mein Abschiedsbrief.
Ich dachte, ich hätte ihn beim Abendessen in Lisas Landhaus in den linken Busen gesteckt und fand ihn erst

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