Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
nicht, als ich danach tastete, aber dann war er doch da, er war im rechten Busen. Also verloren hatte ich ihn auf meiner Radtour durch den Norden offenbar nicht, und da war ich froh, dass dieses peinliche Schreiben jedenfalls in niemands Hände geraten war.
Dann hörte ich aus dem Nebenzimmer leises Geklapper, das war wohl das Geräusch gewesen, das mich zu meinem Cappuccino-Untertassen-Traum inspiriert hatte. Ich bin aufgestanden, das ging ganz gut, und habe die Schiebetür aufgemacht, und da saß ein Mann mit dem Rücken zu mir vor einem Schreibtisch am Fenster und schrieb tatsächlich auf einer uralten Schreibmaschine, und links und rechts von ihm an den Wänden waren Regale bis zur Decke hoch und die waren voller Bücher. Der Mann drehte sich zu mir um, und richtig, es war Bruno. Der Mann, der mich am Hauptbahnhof aufgelesen hatte, ich hatte mich nicht getäuscht.«
»Der doofe Bruno …«
»Meine Güte, ja! Jetzt reiben Sie es mir doch bitte nicht so unter die Nase. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass mir das Lachen mit Bruno schon noch vergehen werden würde. Nicht so dito. Er grinste mich an. Und fragte mich, ob ich lieber heißen Kakao oder Bouillon wollte. Ich habe gesagt: ›Bouillon, bitte.‹ Und Bruno stand auf, holte von irgendwoher einen warmen Bademantel und Hausschuhe, das zog ich alles an, und dann sagte Bruno: ›Mitkommen!‹ Ich folgte ihm in die Küche, und er machte mir eine heiße Bouillon. Richtig gut war die, die war das, was meine Omi eine
Schöne Klare Brühe
genannt hätte.
Bruno sagte, dass ich sehr hohes Fieber gehabt und drei Tage geschlafen hätte und dass in der Zwischenzeit ein Arzt hier gewesen wär, der mir eine Antibiotika-Spritze gegeben hätte, obwohl das ein Risiko gewesen wär, weil niemand wusste, ob ich darauf nicht vielleicht allergisch reagieren würde und ich hätte partout keine Antwort geben wollen. Er gab mir noch eine volle Packung mit Tabletten, die der Arzt für den Fall meines Erwachens dagelassen hatte, denn ich hatte wohl eine Lungenentzündung.
Gott, wollte ich sterben vor Scham. Der doofe Bruno hatte mir das Leben gerettet, obwohl ich ihn erst vor wenigen Tagen so beleidigt hatte. Er hatte mich in sein Bett gesteckt und selber auf dem Sofa geschlafen, obwohl ich ihm gesagt hatte, dass sein distinguiertes Getue eine Unverschämtheit wär. Er hatte einen Arzt kommen lassen und mir Bouillon gekocht, obwohl ich ihm gesagt hatte, dass er scheiße aussieht und ich ihn nicht vermissen würde. Stellen Sie sich mal vor,
wie
ich den vermisst hätte, wenn er mich nicht am Bahnhof aufgelesen hätte!«
Die Palmenberg lächelt. Ein schönes, friedfertiges, anteilnehmendes Lächeln, und Hendrikje sieht, wie hinreißend schön die Palmenberg ist, ’ne richtige Königin, sie möchte sie am liebsten malen.
»Hendrikje, ist Ihnen klar, was für ein wahnsinniges Glück Sie hatten?«
»Ja, das ist mir klar. Das ist mir heute klar, mehr als damals. Denn dort, in Brunos Küche, da habe ich vor lauter Scham und Peinlichkeit fast nicht geradeaus gucken können. Ich habe mich bedankt bei Bruno und wollte dann gleich wissen, wo meine Sachen wären, denn ich wollte mich anziehen und gehen. Ich fand, er hatte weiß Gott genug für mich getan. Er sagte, meine Sachen hingen im Bad zum Trocknen, aber er an meiner Stelle würde in
den
Sachen und mit ’ner Lungenentzündung nicht rausgehen, und ich sollte mich mal ruhig erst auskurieren.
Ich merkte auch selbst, dass ich noch sehr schwach war, ich wurde nach der einen Tasse Bouillon gleich wieder müde. Bruno versicherte mir, dass ich ihn wirklich nicht stören würde, und dann bin ich wieder zurück in das Bett und bin gleich wieder eingeschlafen. In den folgenden Tagen hat Bruno mich bekocht, das war lieb, und er kann toll kochen. Er hat mir erzählt, dass er Doktor der Philosophie ist, sein Geld aber mit Mathematik-Nachhilfestunden und Museumsführungen verdient. Ach Mensch, das war richtig nett bei Bruno. Jeden Morgen hat er mir ein Frühstück gemacht, heißen Kakao und Croissants mit gesalzener Butter, er hat mir eine Scholle gebraten mit selbst gemachtem Kartoffelpüree, und einmal gab’s Hühnchen mit Provencekräutern und Zitrone und Tomatensalat. Ich hab nur gegessen und geschlafen, geschlafen und gegessen, und irgendwann merkte ich, dass ich total gesund war.«
»Haben Sie Bruno erzählt, was passiert war?«
»Nein.«
»Nein? Warum nicht?«
»Weil ich mich so fürchterlich schämte, auch für die verschiedenen
Weitere Kostenlose Bücher