Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
Versuche, mich umzubringen. Und hätte ich ihm etwa sagen sollen: ›Du, dein Provence-Hühnchen ist echt lecker, ich hab übrigens gerade meinen besten Kumpel Holger ermordet …?‹ Ich konnte das doch keinem erzählen, und wer weiß, wahrscheinlich wurde ich schon von der Polizei gesucht.«
»Wegen Holger.«
»Ja, das dachte ich. Wegen dem Meuchelmord an Holger.«
»Sie wissen, dass wir darüber unterschiedlicher Meinung sind.«
»Ja, weiß ich. Jedenfalls. Ich fühlte mich total gesund und wusste, dass es nun mal an der Zeit wäre, Brunos Refugium auch wieder zu verlassen und raus ins feindliche Leben zu gehen.«
»Was wollten Sie denn da?«
»Na, zum Beispiel Rothwein Bescheid sagen, dass es mit der Ausstellung im März nichts werden würde.«
»Aber wo wollten Sie denn hin?«
»Das wusste ich noch nicht, es war mir nur klar, dass ich nicht für den Rest meines Lebens bei Bruno bleiben konnte, dem ich so übel mitgespielt hatte und dem ich im Augenblick noch übler mitspielte, weil er nicht wusste, dass er einer Mörderin Unterschlupf gewährte. Also habe ich ihm gesagt, dass ich jetzt gehen würde, wo ich doch nun wieder gesund wär. Dagegen konnte er nichts mehr sagen und war so nett, mir warme Sachen von sich zu geben.«
»Sind das die Sachen, die Sie tragen?«
»Ja«, sagt Hendrikje und schaut an sich herunter, »solche Sachen trägt Bruno. Das sind seine Schuhe, sein Pulli, seine Cordhose. Alles Brunos Sachen. Ich hab mich also noch mal bedankt bei Bruno, und er sagte, das ginge schon klar, und dann bin ich los, raus ins feindliche Leben.
Zuerst bin ich tatsächlich in die Galerie Rothwein gegangen, die warm und groß und lichtdurchflutet war, und als Rothwein aus seinen Katalogen hochguckte und mich erkannte, da lächelte er und sagte: ›Frau Schmidt! Das ist aber schön, kommen Sie rein!‹
Er freute sich, mich zu sehen. Dann hab ich ihm gesagt, dass mein Atelier mit allen Bildern abgebrannt wär, und er guckte mich an und glaubte mir kein Wort. Er sagte, dass es das manchmal gäbe bei Künstlern, dass sie vor ihrer ersten großen Ausstellung so ’ne Angst kriegen, dass sie sich in so eine Angstfantasie von verbrannten Werken so sehr reinsteigern, bis sie es selber glauben, ich bräuchte aber keine Angst zu haben, denn die Bilder, die er auf den Dias gesehen hätte, wären einfach nur gut. Ich habe ihm gesagt, dass dies leider keine Angstfantasie wäre, sondern die Wahrheit, dass ich sogar hoch verschuldet wär wegen des Brandes und dass ich vor der Ausstellung überhaupt keine Angst gehabt hatte, sondern nur Freude.
Rothwein schaute mich nur an, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und sein Blick wurde immer kälter. Ich guckte abwechselnd auf den Fußboden und in sein Gesicht, und ich konnte ihn verstehen. Ich hatte ein Baby gehabt und nicht drauf aufgepasst und das Baby war gestorben, und damit hatte ich mich für alle Zeiten als Mutter diskreditiert. So muss man das sehen, und so sah das Rothwein. Nach einer Ewigkeit nickte er, nur ganz wenig, und ich wusste, ich war entlassen, ich durfte gehen, die Audienz war beendet. Ich war so gefesselt von ihm und seinem würdevollen Ekel, dass ich die Galerie tatsächlich
rückwärts
verlassen habe. Ich ging rückwärts raus, erst vor der Tür drehte ich mich um und
schlich mich
.
Es war schon Abend geworden, und so bin ich in die
Grüne Palme
, weil ich hoffte, dort Dieter zu treffen. Aber in der
Grünen Palme
saßen nur die neun Milchgesichter am Tresen, und es fehlte der zehnte Mann. Und obwohl die Milchgesichter sich immer umdrehen, wenn die Tür aufgeht, drehte sich heute niemand nach mir um, weil ich in Brunos Klamotten hereinkam und ein bissel gestresst wirkte.
Ich hab die Barfrau nach Dieter gefragt, und die sagte ganz enttäuscht: ›Ach, du meinst den Schönen mit dem Segelschiff? Nee, der war schon lange nicht mehr da, das wüsst ich.‹ Also Dieter war wie vom Erdboden verschwunden. Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo ich hin sollte. Mir war klar, dass es besser für mich wäre, mich nicht in der Nähe meiner Wohnung blicken zu lassen, und so bin ich einfach immer weiter durch die Stadt gewandert, es war Ende Januar und nicht wärmer geworden.
Ich bin sehr weit gelaufen, ich war schon in Ottensen, und da dachte ich, also wenn das so weitergeht, dann muss ich zurück zu Bruno, aber wie superpeinlich würde das sein. Und natürlich lag Holger mir auf der Seele, ich dachte, ich muss nur diese Nacht überstehen, und dann muss ich
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