Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
Schmuckkästchen und war froh froh froh, dass es da war. Ich hob es auf und kam wieder hoch, und da stand Ernst vor mir, und dicht hinter ihm, an der Treppe, die hinunter ins Erdgeschoss führte, standen Lisa und Sophie.
Ich war … ganz versteinert und fassungslos, wie Paula mich hatte so verraten können. Sollte ich mich so in ihr getäuscht haben? Wie konnte sie die drei bloß hierher führen? Sie hatte sich doch so viel Mühe gegeben, alles wieder gutzumachen, sie hatte mir ihren Schlafsack überlassen und selbst auf der Hundedecke bei Paula geschlafen, Malzeug besorgt … War das alles nur geblufft? Und würde sich am Ende vielleicht doch noch herausstellen, dass sie das Feuer im Atelier mit Absicht gelegt hatte?
Solche Gedanken tobten mir im Kopf herum und mein Herz raste, als ob es mir aus dem Brustkasten springen wollte, als Ernst ganz ruhig und freundlich zu sprechen anfing. Er sagte: ›Guten Tag, Hendrikje, mein Gott, hier steckst du also, und wir suchen dich überall.‹ Ganz freundlich. Ich nickte ganz automatisch und hatte so einen Kloß im Hals, dass ich nicht sprechen konnte. Da fuhr Ernst fort: ›Du musst dich doch nicht verstecken vor uns.‹ Er kam einen Schritt in den Raum hinein, und ich wich zurück vor ihm mit dem Schmuckkästchen in den Händen, das ich fest an mich drückte. Ernst sah sich um, sah die nackten, löchrigen Wände, an denen zum Teil Tapetenreste aus hundert Jahren klebten, und sah auch die beiden Arme mit den Segelschiffen, eins schlaff und eins prall segelnd. Er sagte: ›Du hast ja sogar schon wieder angefangen zu malen‹, und ich nickte wieder. Ernst ging ganz nah ran und besah sich die beiden Arme und sagte: ›Toll, diese Studien da, du weißt ja, dass ich immer ein Fan von deinen Sachen war‹, und ich nickte, obwohl ich mich gerade gar nicht erinnern konnte, wann das gewesen sein sollte, dass Ernst und ich mal über meine Arbeit gesprochen hätten, und dann fragte er in so einem leisen, ganz vertraulichen Ton: ›Sag mal, warst du eigentlich schon bei der Polizei?‹, und ich schüttelte den Kopf und sagte: ›Nee … wieso?‹
Und Ernst sagte: ›Na, wir dachten, du würdest dich vielleicht stellen wollen. Das wirkt sich ja strafmildernd aus.‹
Da wusste ich, dass es jetzt gefährlich werden würde. Natürlich fühlte ich mich schuldig, absolut und unumschmeißlich schuldig an Holgers Tod, aber ich wusste auch, dass Ernst es gewesen war, der das Sorbet vergiftet hatte, und dass er der Letzte war, der mich jetzt fragen durfte, ob
ich
mich schon der Polizei gestellt hätte.«
»Haben Sie ihm das gesagt?«
»Nee, das hab ich mich nicht getraut. Ich wusste, dann würde er explodieren, weil er das Sorbet ja gewissermaßen
auf meinen Wunsch
vergiftet hatte.«
»Ohne jedoch die anderen einzuweihen.«
»Um die zu schützen. Um die juristisch vor jeder Mitwisserschaft zu schützen.«
»Wie edelmütig.«
»Egal. Jedenfalls beißt die Maus keinen Faden daran ab: Ernst hatte das Sorbet auf meinen Wunsch vergiftet, wie also konnte ich ihm das jetzt vorwerfen!? Ich wusste, dass er Recht hatte: Ich war schuld an Holgers Tod, ich hätte mich der Polizei stellen sollen. Und seine Eltern saßen immer noch nichts ahnend in der Lüneburger Heide und glaubten ihren Sohn in Moskau auf ’nem Übersetzer-Kongress, während er tot in Schleswig-Holstein auf Eis lag.
Dann fragte mich Ernst, wie ich mir denn mein weiteres Leben so vorstellte, wie ich weiterleben wollte mit dem Bewusstsein, Holger getötet zu haben, auch noch jetzt, wo sich endlich ein Verlag für seine Neuübersetzung von
Krieg und Frieden
interessierte, ausgerechnet jetzt, wo doch Holgers Leben endlich angefangen hatte. Dass ich mich zwar der Polizei stellen könnte, und dass ich dann wahrscheinlich mindestens zehn Jahre lang ins Zuchthaus käme, vielleicht aber auch zwanzig, aber ob ich wirklich meinen würde, dass ich in dieser Zeit vergessen oder verdrängen könnte, was ich Holger genommen hätte.
Ich merkte, wie mir langsam schlecht wurde, und ich fing an zu heulen. Denn ich wusste, dass Ernst Recht hatte: Niemals würde ich vergessen können, was ich Holger genommen hatte.
Ernst gab mir ein Taschentuch und zündete sich eine Zigarette an, und ich bat ihn, mir auch eine zu geben, und das tat er. Ich hatte so weiche Knie, dass ich mich setzen musste, ich setzte mich also auf den Fußboden mit dem Rücken an die Wand, an der Dieters Arme hingen, und rauchte diese Zigarette. Das Schmuckkästchen legte ich neben
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