Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
langsam. »Ja, klar … so könnte es gewesen sein …«
»Ich war nicht mit dabei, aber ich denke, dass es so oder so ähnlich gewesen sein muss.«
Hendrikje guckt die Palmenberg mit erschrockenen Augen an: Wieso ist sie nicht selbst darauf gekommen …? Paula hatte einfach die Nerven nicht, völlig logisch. »Ja, Paula hatte einfach die Nerven nicht. Was hätte ich aber Ihrer Meinung nach tun sollen? Hätte ich selber in die Wohnung gehen sollen?«
»Nein, sicher nicht. Sie wussten ja, dass das gefährlich sein könnte, und da haben Sie gedacht, es ist viel sicherer, ein kleines durchgedrehtes Nervenbündel hinzuschicken. Sie hätten in der Tat zur Polizei gehen müssen, warum haben Sie das nicht getan?«
»Weil ich wusste, dass ich Holger umgebracht hatte. Vielleicht nicht im juristischen Sinn, aber in meinem Sinn.«
»Ach, so sehen Sie das. So gesehen kann ich Ihnen da Recht geben. Sie mochten Holger?«
»Und wie! Er war lieb, er war einfühlsam, er ist ein zauberhafter Zuhörer gewesen, er war für einen da, wenn man ihn brauchte …«
»Und warum haben Sie ihn dann verachtet?«
»Verachtet? Ich habe doch Holger nicht verachtet!«
»Natürlich haben Sie das. Er war der Einzige, der wenigstens ganz leise kundtat, dass er die Aktion nicht gut fand, hat sich aber irgendwie überreden lassen mitzumachen. Der klassische Mitläufer, der sogar noch vor sich selbst ein reines Gewissen haben konnte, weil er seine Meinung, wenn auch ganz leise, so doch gesagt hatte.
Hendrikje hat nicht einmal eine unheilbare Krankheit!,
hatte er gesagt, und niemand war darauf eingegangen, auch Sie nicht. Sie sind ihm sogar noch über den Mund gefahren, Sie haben ihn nicht ernst genommen. Sie hätten ihn anschreien können, Sie hätten versuchen können, ihm Ihre Gründe zu erklären, aber Sie haben sowieso Holgers kleine Einwürfe nicht ernst genommen, weil sie ja nur von Holger kamen, der lieb und fleißig und fleißig und lieb war. Niemand hat Widerspruch eingelegt gegen Ihr Vorhaben, und Holgers Widerspruch
galt
für Sie nicht, denn er kam ja
nur
von Holger.«
»Ach, und deshalb hab ich ihn verachtet!?«
»Ja, und vielleicht sogar zu recht. Jedenfalls … Ich denke, dass es diese Verachtung ist, die eine Teilschuld an Holgers Tod trägt, sicher.«
Hendrikje fällt in den Sessel zurück, dreht den Kopf weg, schaut auf den grauen Teppichboden und hält sich die Stirn fest.
»Lassen Sie uns weitermachen, ich will jetzt wissen, wie Sie von dem Dach lebend runterkamen, denn das sind Sie ja wohl ganz offensichtlich.«
Hendrikje hat gar nicht zugehört und fährt wieder hoch. »Was?«
»Wie ging das weiter mit Ihnen und Ernst auf dem Dach?«
»Oh, Ernst, ja. Also.« Hendrikje rappelt sich hoch und setzt sich gerade hin.
»Ernst. Ernst tat, womit ich nicht gerechnet hatte. Er kam zu mir aufs Dach. Er stieg durch das Fenster und kletterte zu mir auf den Giebel. Er hielt sich noch mit den Händen an der Außenwand fest und redete mit seiner Großvaterstimme auf mich ein, so ganz besänftigend und langsam, wie man mit einem Kind redet, und das machte mich sauer. Er sagte: ›Hendrikje, wir haben jetzt so viel Scheiße angerührt, dass wir was unternehmen müssen. Entweder gehen wir jetzt zusammen zur Polizei oder du machst, was du sowieso machen wolltest. Wir sind ja alle bei dir.‹
Seine Stimme war ganz warm und tief, als er das sagte, und ich erinnerte mich, wie er mit derselben warmen, tiefen Stimme früher im Bett immer an der bestimmten Stelle: ›Du zuerst! Lass dich fallen!‹, gesagt hatte. Und das fand ich plötzlich rasend komisch. Ich musste kichern und sagte zu ihm: ›Du zuerst! Lass dich fallen!‹, und kicherte mich darüber schlapp da oben auf dem Dach, weil ich das irrwitzig komisch fand.
Ernst kam ein Schrittchen näher. Er stand und ich saß, und er hielt seine Arme weit vom Körper ab, um zu balancieren, und das sah mordsmäßig doof aus. Ernst, der Zirkusartist. Er guckte mich ganz ernst an, und ich dachte: Das ist jetzt der Ernst meines Lebens.
Ich musste immer noch kichern, wie er da auf dem Dach rum eierte und es auch irgendwie nicht mehr so richtig gemütlich fand, und ich dachte: Aber er hat ja Angst, und das fand ich geradezu außerirdisch, ein Ernst, der Angst hat. Ich dachte: Hendrikje, wenn du nicht aufpasst, dann fällst du gleich vor Lachen vom Dach, so sehr musste ich kichern.
›Du zuerst! Lass dich fallen!‹, rief ich ihm zu, aber Ernst fand das nicht komisch. Er sagte: ›Halt deine
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