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Hendrikje, Voruebergehend Erschossen

Hendrikje, Voruebergehend Erschossen

Titel: Hendrikje, Voruebergehend Erschossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Purschke
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sich fest, beklaut mich, geht trotzdem nicht und will gekocht kriegen und zu trinken haben, und der Abend, die Nacht und der nächste Arbeitstag sind hin. Ich habe den schon zum Teufel gewünscht, da stand die Berliner Mauer noch, aber er kam wieder und wieder. Jetzt bin ich schlauer: Ich erkenne seine Schritte bereits im Treppenhaus, und wenn’s klingelt, mach ich nicht auf. Ich weiß, dass er wartet, bis zu einer Stunde und länger, ich muss mich also eine Stunde und länger tot stellen und darf nicht das kleinste Geräusch machen, nicht mal pupsen, und dann höre ich, wie er weggeht im Treppenhaus, stehe leise auf, schleiche ans Fenster und beobachte aus gutem Sicherheitsabstand, wie Horst die Straße ’runtergeht. Und dieses Spiel spielen wir seit dem Fall der Berliner Mauer.
    Lieber, viel lieber sind mir meine toten Freunde, besonders mein Kumpel O., der sich vor einigen Jahren umbrachte und der seither mein guter Geist ist. Es war ihm weiter gar nichts passiert, er versah seinen Job scheinbar ohne großen Widerwillen, hatte genug Geld und die schönsten Frauen flogen auf ihn. Gelegentlich erlaubte er einer, für kurze Zeit seine Geliebte zu sein, bis sie ihn
flohen
. Warum weiß ich nicht. O. war halt randvoll mit Weltenekel, und wer könnte das nicht verstehen? Von Haus aus Melancholiker, betrachtete er sein beschauliches Leben als gescheitert und ging, sich von der Köhlbrandbrücke zu stürzen. In seinem Abschiedsbrief stand, der natürliche Tod sei sowieso das zu erwartende allergrößte Scheitern in dieser tätigen Welt, in der man uns absurderweise darauf abrichtet, an unserer Unsterblichkeit zu basteln. Und, so schrieb er, da ihn diese Welt verwirft, nimmt er sich den Tod, um die Welt zu verwerfen.
Respekt. Ich fand das sehr mutig von O., dass er den gefürchteten, von uns allen immer verdrängten Tod quasi am Schlafittchen packte und zu ihm sagte: ›Komm her!‹ anstatt ›Geh weg!‹ und ihn an sich ranzog und ihn zwang, ihm ins Gesicht zu gucken. Respekt.
    Und ich als sein Freund weiß nicht einmal, seit wann er das wusste, seit wann er wusste, dass er ein Selbstmörder war …
    Probleme habe ich allerdings mit der Ästhetik. Sich von der Köhlbrandbrücke stürzen, in dieses brackige Elbwasser, ich bitte Sie. Kleopatra hat sich seinerzeit zwei Giftschlangen an den Hals gesetzt, ekelhaft, man stelle sich vor, man ist tot und auf einem kriechen die Viecher noch rum und man weiß nicht, wohin die kriechen, und Kleopatra war auch noch eine Dame … Hemingway hat sich erschossen, rücksichtslos. Muss man nicht ein bisschen an die denken, die einen finden werden? Müssen die das Gehirn von den Wänden meiner Jagdhütte kratzen, hier ein Stückchen
Der alte Mann
… und dort drüben an der Scheibe etwas vom
Schnee auf dem Kilimandscharo
?
    Wenn ich mich umbringen wollte, wüsste ich wie, und ich bedaure, dass O. sich und mich um das Vergnügen gebracht hat, bei dem ich ihn sogar gern begleitet hätte: sich wie Erich Kästner zum Beispiel totsaufen. Sich totessen, sich totlieben, immer und immer wieder, so würde ich das machen. Und wenn dann einer käme und mich dabei stören wollte, den würde ich – wenigstens für eine Weile – erschießen.
»An dieser Stelle musste ich kichern«, unterbricht Hendrikje die Vorleserei, »wo Sugar Brown schreibt:
für eine Weile erschießen,
ich fand das lustig.
    Ich kicherte, und in dem Augenblick kam Paula angerannt. Völlig außer Atem stand sie in der Tür, sie hatte das Schmuckkästchen, das meine Oma 1945 vor den Russen gerettet hatte, vor Lisa, Sophie, Ernst und den Handwerkern gerettet. Sie stand im Türrahmen, hielt es in der Hand und keuchte, offensichtlich war sie gerannt, aber ich kicherte gerade und sagte zu Paula so etwas wie: ›Paula, das musst du mal lesen hier, das ist so komisch, den, der mich stört, für eine Weile erschießen! Ist das nicht komisch!?‹, kicherte ich, ›
für eine Weile erschießen!‹
    Paula sah mich entsetzt und fassungslos an, schüttelte langsam den Kopf und legte, ohne in den Raum zu mir hereinzukommen, das Schmuckkästchen vorsichtig auf den Fußboden und rannte weg. Rannte einfach weg. Ich konnte mir Paulas Reaktion überhaupt nicht erklären und war sehr verwundert, aber ich dachte, die Kleine ist ja eh ein bisschen verrückt, die beruhigt sich schon wieder. Ich legte die Zeitung weg, pellte mich aus dem Schlafsack, in dem ich lag, und wollte zur Tür zu meinem Schmuckkästchen. Ich bückte mich über das

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