Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
dachte ich, das könnte ich ein bisschen für mich nutzen, schließlich stand sie hoch in meiner Schuld. Es war klar, dass ich nicht in meine Wohnung gehen konnte, denn ich könnte zu jeder Zeit dort Ernst in die Arme laufen, der wahrscheinlich alle paar Stunden den Copyshop seinen Angestellten überließ, um schnell rüberzuhüpfen in meine Wohnung und seine Handwerker zu kontrollieren. Ich brauchte aber dringend ein paar warme Sachen, und Omis vor den Russen gerettetes Schmuckkästchen vor Lisa und Sophie zu retten, schien auch keine schlechte Idee zu sein.
Also hab ich Paula gefragt, ob sie sich zutrauen würde, in die Wohnung zu gehen und ein paar nötige Sachen da rauszuholen. Klar, hat Paula gesagt, sie hätte schließlich was wieder gutzumachen, sie würde gehen, nur: Wie kommt sie rein in die Wohnung?
Ich habe ihr gesagt, dass das wahrscheinlich gar kein Problem sein wird, weil da mittlerweile vermutlich ein Geschwader von Handwerkern am Arbeiten wär. Die Wohnungstür steht bestimmt immer offen – man weiß ja, wie Handwerker sind. Sie wollte wissen, was sie machen soll, wenn sie meinem Ex-Freund begegnen würde, und ich sagte ihr, dann soll sie so tun, als ob sie nur aus Neugier da mal reingeguckt hätte, und sofort weglaufen. Sie sollte auf keinen Fall sagen, dass ich sie geschickt habe, ja nicht einmal, dass sie mich kennt. Und selbstverständlich nicht sagen, wo ich bin.
›Logisch‹, sagte Paula.
Dann habe ich ihr erklärt, wie sie mein Schlafzimmer findet, wenn sie in die Wohnung reinkommt. Ganz einfach: links in den Flur und dann die erste Tür rechts. Da ist der große Schrank, da soll sie die warmen Anziehsachen in ihren Rucksack einpacken, so viel sie kann, und unten im Boden des Schrankes würde sie zwischen den Monopoly und Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spielen ein kleines flaches Schmuckkästchen finden, das meine Großmutter 1945 vor den Russen gerettet hat. Das wär das Wichtigste, das zuerst. Paula nickte sehr verständig und wiederholte laut, was ich ihr gesagt hatte, und ich dachte: Prima, die schafft das. Sie nahm ihren Rucksack und zog los.
Ich arbeitete weiter an Dieters Armen, aber ich war sehr unruhig, ich dachte: O Mann o Mann, hoffentlich geht das gut. Ich wurde sogar so unruhig, dass ich nicht weiterarbeiten mochte, ich dachte plötzlich, eigentlich sollte ich eine Zeitung haben, damit ich Sugar Browns Kolumne lesen könnte, das wird mich ablenken. Und ich dachte, Mensch, Paula klaut so viel Zeug zusammen, da werd ich es doch wohl schaffen, eine Zeitung zu klauen. Ich bin raus aus dem Haus und zum nächsten Tabakladen, da stand ein Zeitungsständer gleich an der Tür, der Verkäufer schwatzte mit zwei Männern, die bei ihm Bier tranken und rauchten, und ich hab die Zeitung ganz vorsichtig rausgezogen und bin im gestreckten Galopp weggerannt. Die haben es zwar gemerkt, die haben mir auch noch was hinterhergerufen, morgen müsste ich mir also meine Kolumne woanders besorgen, aber heute hatte ich es erst mal geschafft. Ich hab mich gefreut wie ein Schneekönig und bin zurück ins Haus mit meiner Zeitung und habe mich schön gemütlich in den Schlafsack gekuschelt, es war jetzt schon Februar geworden, wie ich in der Zeitung lesen konnte, und es war immer noch kalt. Moment, ich hab’s dabei.«
Hendrikje lehnt sich weit im Sessel zurück und hebt das Becken an, um besser mit beiden Händen gleichzeitig in ihren Hosentaschen wühlen zu können. So findet sie ihren ausgeschnittenen Zeitungstext.
»Soll ich?«, fragt sie und hält das zusammengefaltete streichholzschachtelgroße Papierpäckchen hoch, und die Palmenberg nickt wie man einem Kind zunickt, dem man nach langem Betteln nachgibt.
Hendrikje entfaltet das Papier und liest vor:
Was hätten Sie lieber? Tote Freunde oder lebendige Freunde? Keine einfache Frage, ich weiß, ’s is unterschiedlich, das kann man so nicht sagen. Aber wie man so manchem Mitmenschen wünscht, er möge in der Hölle braten, so wünscht man das auch manchem Freunde. Und wünscht es ihm zu Recht. Zum Beispiel das Arschloch, das mir die Freundin ausgespannt hat, war mal ein Freund. Oder zum Beispiel meine Freundin Sabine, Nymphomanin mit ausgeprägtem Sammlertrieb, ruft mich einmal täglich an und heult sich bei mir über ’nen täglich anderen Kerl aus. Aber nicht mit mir, lange lasse ich mir so was nicht gefallen, ich habe Sabine verboten, mich je wieder anzurufen. Horst der Schnorrer ist schlauer, der ruft nicht an, der kommt gleich vorbei, quatscht
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