Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hendrikje, Voruebergehend Erschossen

Hendrikje, Voruebergehend Erschossen

Titel: Hendrikje, Voruebergehend Erschossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Purschke
Vom Netzwerk:
mich auf den Fußboden, und ich weiß noch, dass ich dachte, Hendrikje, ich weiß nicht, ob du dir das leisten kannst, hier mit Ernst und weichen Knien Zigaretten zu rauchen, vielleicht solltest du lieber …«
    »Lassen Sie mich kurz unterbrechen«, sagt die Palmenberg, »wo befand sich zu diesem Zeitpunkt Ihr Abschiedsbrief?«
    »Den hatte ich verbrannt. Am zweiten Abend bei Paula. Da kriegte ich plötzlich so’n Gefühl, dass ich dachte, es wär besser, ich wäre ihn los, damit ihn keiner liest, und habe ihn über die Kerze gehalten.«
    »Wusste Paula von seinem Inhalt?«
    »Nein, ich hatte Paula nichts erzählt.«
    »Gut. Fahren Sie fort.«
    »Naja. Ich dachte jedenfalls, was sitze ich hier mit Ernst und mit weichen Knien und warum ist Ernst hier und was will der eigentlich von mir, und draußen standen immer noch Lisa und Sophie, ich hatte jedenfalls nicht gehört, dass die weggegangen wären, und wieso kamen die nicht zu uns rein? Und plötzlich dachte ich, Mensch, Ernst hat vielleicht neues Gift besorgt und hat es dabei und will vielleicht nachholen, was wir neulich versäumt haben, wieso fragt der so scheinheilig, ob ich bei der Polizei gewesen wäre, denn wenn ich da gewesen wäre, dann wäre ich ja mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht hier im Abbruchhaus, die hätten mich ja wohl kaum wieder laufen gelassen, wenn ich denen gesagt hätte, dass ich Holger umgebracht hab. Und da wurde mir klar, dass ich irgendwie in Lebensgefahr schwebe. Ich habe die Zigarette mit Absicht ganz langsam auf dem Fußboden ausgedrückt und auch richtig aufgepasst, dass ich jedes noch so kleine Glutstückchen ausdrücke, nicht, dass es gleich wieder brennt, und ich dachte noch: Hendrikje, jetzt musst du schnell sein, du hattest ’ne Lungenentzündung und du hast gerade geraucht, aber besser du bist jetzt schnell, und ich hab mich gesammelt und bin dann mit einem Satz, mit einem einzigen Satz aufgesprungen und rausgerannt.
Ich wollte raus aus dem Haus, also die Treppe runter ins Erdgeschoss und in das Souterrain, wo das Ausstiegsfenster war. Aber an der Treppe standen Lisa und Sophie, und wie ich die sah, wie die da standen mit panisch verkniffenen Gesichtern, da wusste ich plötzlich, dass die mich nicht vorbeilassen würden, und also blieb mir nur noch die Treppe nach oben als Fluchtweg, und die bin ich raufgerannt. Ich hörte, wie Ernst in affenartiger Geschwindigkeit hinter mir herjagte.
    Ich bin ganz bis nach oben gerannt, und es ist mir bis heute nicht klar, wieso meine Kondition mir erlaubte, doch immer noch ein paar Meter Vorsprung vor Ernst zu haben, denn der Abstand zwischen uns vergrößerte sich tatsächlich. Wenn auch nicht so, dass ich Anlass zur Beruhigung hätte haben können. Er war immer noch hinter mir her, ich hörte seine Schritte und dass er keuchte. Ich kam auf dem Dachboden an, ein geräumiger, leerer Dachboden, auf dem ein paar Taubenleichen herumlagen. Die Bodenfläche hatte einen vermauerten Schacht in der Mitte: das Treppenhaus. Um diesen Schacht bin ich herumgelaufen, ich habe ein Versteck gesucht, aber es gab natürlich keins.
An der geraden Wand am Ende des Dachbodens gab es aber ein Fenster. Nicht eine Luke wie in den schrägen Dachwänden, sondern ein richtiges kleines Fenster. Ich hatte so eine Angst vor Ernst, dass ich guckte, was hinter dem Fenster kommt, und ich sah, dass in der Höhe des Fußbodens, auf dem ich stand, draußen der First eines anderen, viel kleineren Daches verlief. Darunter lagen die Erker der unteren Stockwerke. Ich erinnerte mich, von außen gesehen zu haben, dass das oberste Erkerzimmer einen kleinen Balkon hatte, und ich dachte, wenn es mir gelingt, auf dieses Dach zu klettern und ans vordere Ende zu gehen, dann kann ich mich von dort aus auf den Balkon runterlassen.
    Ich hab also das Fenster aufgemacht und bin ganz vorsichtig auf den Dachfirst geklettert. Ich musste wahnsinnig balancieren und durfte gar nicht runtergucken, denn es ging links und rechts nur noch über rote Schindeln nach unten.
    Ich hörte Ernst hinter mir atmen, und ich wollte mich umdrehen, um zu gucken, wo genau er ist, ob er mir etwa folgt oder nicht. Jedenfalls wollte ich ihn nicht im Rücken haben, und ich überlegte, wie ich das überhaupt machen sollte, mich umdrehen auf diesem Dach ohne abzustürzen. Ich hab mich also vorsichtig hingesetzt wie auf einen Turnbock und im Sitzen das linke Bein vorsichtig zum rechten Bein auf der rechten Seite gezogen und dann das rechte Bein wieder

Weitere Kostenlose Bücher