Hendrikje, vorübergehend erschossen
davonkäme.«
»Das hört sich ja wirklich sympathisch an.«
Hendrikje lächelt. »Jaa, Goebbels ist ’ne Nette.«
Und die schöne Frau Doktor Palmenberg mit dem strengen, schlecht improvisierten Knoten im Nacken schaut auf: »Hendrikje, Sie
haben gerade gelächelt.«
Unwillkürlich erschrickt Hendrikje und wird todernst: »Oh, das sollte ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich eineinhalb Menschen …«
»Ich hoffe nur, Goebbels war einer von ihnen«, sagt die Palmenberg und fordert streng: »Aber das bleibt unter uns.«
Hier horcht Hendrikje empfindlich auf. »Fangen Sie jetzt an, sich über mich lustig zu machen?«, fragt sie leise und bestimmt.
»Nein«, seufzt die Palmenberg müde. »Entschuldigung.«
»Also, ich bin ja kein Serienkiller«, insistiert Hendrikje.
»Nein, natürlich nicht, Hendrikje. Entschuldigen Sie bitte die Bemerkung. Wie ging’s weiter?«
Hendrikje schaut sich die Palmenberg an, ob diese Entschuldigung denn auch wirklich ernst gemeint ist, und erst als sie ein
paar tiefe, müde Kummerfalten um die sonst so makellosen Palmenbergschen Augen sieht, glaubt sie der Ärztin.
»Ich hatte nur noch eins im Kopf: Geld. Oder besser: Geld verdienen. Ich wusste, dass ich keine Zeit verlieren durfte, sondern
sofort sofort sofort Geld verdienen musste. Lisa wollte, dass ich ihr Loft bemale, also dachte ich: Sofort hinfahren |46| und gucken, wie weit dieser Dieter mit seinen Bauarbeiten ist, vielleicht kann ich ja schon anfangen. Ich bin also mit meinem
schönen roten Rennrad zu Lisas Loft gefahren, es war schon dunkel draußen, und wirklich habe ich Dieter da angetroffen, diesmal
ganz allein, er war am Verlegen von Küchenfliesen, es hingen zwei kleine Scheinwerfer von der Decke, damit er Licht hatte,
und so war das Loft beleuchtet wie eine schummerige Theaterkulisse, und wie Dieter da so am Arbeiten war, also, das sah richtig
klasse aus, wie ein Gemälde von Rembrandt, rein lichttechnisch gesehen. Als Dieter merkte, dass da plötzlich jemand stand,
hat er sich richtig erschrocken, aber dann hat er gesehen, dass nur ich das war, und da hat er sich, glaub ich, gefreut. Er
hielt sich die Hand vor die Augen, weil das Licht ihn blendete, und dann erkannte er mich und fing zu grinsen an und sagte:
›Ach, die Lady mit dem tollen Fahrrad …‹, und das war ein Kompliment für mich. Er hat sofort aufgehört zu arbeiten und hat
den kleinen Heizlüfter angemacht, den Lisa ihm hingestellt hatte, und im Tauchsieder Wasser warm gemacht. Damit hat er dann
in einer großen Tasse einen Suppenwürfel aufgebrüht. Und weil er nur eine Tasse hatte, haben wir uns die Suppe geteilt. Er
hat gesagt, dass er die Wände erst als Allerletztes verputzt, erst, wenn alles andere fertig ist, es würde also noch ein Weilchen
dauern, bis ich mit dem Wischen anfangen könnte. Ich hab genickt und gefroren und mich umgesehen und gesehen, dass es noch
viel zu tun gab. Das konnte wirklich noch lange dauern, das konnte womöglich März werden, bis Dieter die Wände verputzt hatte.
Es war ja noch gar nichts passiert, nicht die zusätzlichen Wände eingezogen, und einen richtigen Estrich gab es auch noch
nicht … Als ich Dieter wieder angucke, da schaut er mir direkt ins Gesicht und sagt: ›Du siehst scheiße aus.‹ Ich hab ihm
gesagt, dass ich grad ’ne Menge Ärger hätte, |47| und er wollte wissen, was los wäre, aber ich wollte ihm die ganze lange Geschichte ersparen und mir irgendwie auch, denn es
war grad so schön mit ihm und ich wollte uns nicht den Abend verderben.
›Ach, halt der übliche Scheiß …‹, hab ich dann bloß gesagt, und Dieter nickte und sagte: ›Das kenn ich.‹ Und eh ich auch nur
irgendwas denken konnte oder machen konnte, ehe ich ihn wieder angucken oder die Bouillontasse abstellen konnte oder irgendwas,
da küsst er mich plötzlich. Ehe ich überhaupt bis 1 zählen konnte. Plötzlich war mein Kopf zwischen seinen Händen und seine
Lippen auf meinen, und er hatte weiche, warme Lippen, und der Kuss war schön und hörte überhaupt nicht mehr auf. Mir wurde
heiß, und Dieter fing an, den Reißverschluss meiner Anorakjacke herunterzuziehen, und da musste ich kichern, weswegen Dieter
aufhörte mich zu küssen, aber das ging mir nun doch irgendwie zu schnell. Ich hab den Reißverschluss wieder hochgezogen und
gesagt: ›Ich kann das nicht so schnell‹, und Dieter hat genickt und gefragt: ›Du hast ’nen Kerl?‹ Und ich hab gesagt: ›Ja.
Ich
Weitere Kostenlose Bücher