Hendrikje, vorübergehend erschossen
gestanden
hatten, und plötzlich war mir alles klar und ich hab zu Ernst gesagt: ›Du bist in Sophie verliebt.‹
›Ja‹, sagte er ohne Umschweife, ›bin ich.‹
Und nun saß ich da und nickte tonlos, und Ernst sagte: ›Hendrikje, das hast du doch gewusst, dass das mit uns beiden nicht
ewig gehen würde. Und wir hatten eine klare Abmachung. Es ist nie von Liebe die Rede gewesen.‹
›Nee nee‹, das musste ich ihm bestätigen, das hatte ich ja die ganze Zeit gewusst und hingenommen.
›Also.‹
Sophies Bild stieg vor meinem inneren Auge auf, ihre makellose, überirdisch schöne Fresse und die unglaubliche Ruhe, die sie
so engelhaft umschwebte, dass all meine Eisenbahnbrücken und kriegerischen Liebesakte daneben wie |59| kranke Psychosen aussehen mussten. Kranke Psychosen, die ihr Ende gefunden hatten in der Weihnachtsnacht, in der Ernst und
Sophie sich vermutlich zum ersten Mal geküsst oder so hatten.
Ich dachte, vielleicht irrt Rothwein, wenn er sagt: ›Sie sehen den Krieg in allen Gestalten‹, vielleicht sehe ich nur das
Hässliche in allen Gestalten, und Sophie hatte es weggeblasen. Solche Gedanken waren es, die mich Ernst fragen ließen: ›Wieso
Sophie?‹ Aber Ernst dachte natürlich, ich frage diese lächerliche superblöde Frage aus den Frauenmagazinen: ›Was hat sie,
was ich nicht habe?‹
›Du willst wissen, was sie hat, was du nicht hast?‹, fragte Ernst, und ich sagte: ›Ja.‹
Da hat er mich lange angeguckt und dann den Kopf geschüttelt: ›Nee, Hendrikje, das willst du nicht. Das willst du nicht wirklich
wissen.‹
Und dann nahm er die Skier von der Wand, schulterte sie, ging an mir vorbei die Stufen hoch zu seiner Reisetasche, fingerte
den Schlüssel aus seiner Anoraktasche und schloss sich die Tür auf. Er drehte sich noch mal zu mir um und sagte: ›Hendrikje,
ich bin dein Kumpel. Wenn irgendwas ist, sag Bescheid, ich bin für dich da. Aber jetzt lass mich pennen gehen.‹
Und verschwand.
Bis zu diesem Augenblick war ich glücklich gewesen. Es war Glück, Ernst anzugucken und seine Stimme zu hören. Erst jetzt,
als er weg war, als sich die Haustür leise hinter ihm geschlossen hatte, da wurde mir klar, dass ich ihn so schnell nicht
wiedersehen würde, dass er nicht mehr mit mir schlafen würde, dass niemand mit mir schlafen würde und nicht mit mir reden.
Und es kroch mir eine Kälte in die Glieder, eine sibirische, sibirische Kälte und ich dachte, wenn ich nicht aufsteh und heimgeh,
frier ich hier fest, und dann |60| konnte ich kaum aufstehen, weil meine Gelenke ganz steif geworden waren, aber ich bin dann doch aufgestanden und durch den
Schnee nach Hause gelaufen.«
»Schön. Sehr schön.« Sagt die Palmenberg. »Das ist gut. Kann ich davon ausgehen, dass das Kapitel Ernst damit abgeschlossen
ist?«
»Nein! Wie stellen Sie sich das vor?!« Hendrikje ist voller Empörung. »Tür zu und fertig?«
»Gut«, seufzt die Palmenberg und schaut auf die Uhr, »was dann?«
»Ich bin durch den Schnee nach Hause gelaufen und da saß ich dann in der Küche ’rum. Ernst hatte sich in die sagenhaft schöne
Sophie verliebt, und ich wusste, dass es zwecklos gewesen wäre, um ihn zu kämpfen. Die Omi war tot, niemand würde mir jemals
wieder eine heiße Suppe hinstellen, meine Bilder waren verbrannt, ich hatte mördermäßige Schulden und mein schönes rotes Rennrad
war geklaut. Und wie mir das so durch den Kopf ging, fiel mein Blick auf das Brett mit den Seemannsknoten, das meine Omi seit
ich denken kann in der Küche hängen hat, und das kam mir vor wie ein Wink des Schicksals, ich dachte: Genau. Es ist genug
jetzt. Es reicht.«
»Was heißt das: Es ist genug jetzt, es reicht?«, will die Palmenberg wissen.
»Na, das heißt, ich dachte, ich bringe mich jetzt erst mal um.«
»Sie wollten sich das Leben nehmen?«
»Ja, genau.«
»Gut, bitte fahren Sie fort.«
»Ich hab mir ein paar Sachen zusammengepackt, meine Zigaretten und ein leeres Marmeladenglas mit Wasser, ich hab das Telefonkabel
aus der Wand gerissen und das Brett mit den Seemannsknoten von der Wand genommen. Ich hab |61| mir das Bügelbrett geschnappt und bin einen Stock höher auf den Dachboden gegangen. Auf der einen Seite sind die einzelnen,
abgeteilten Käfige für die Mieter, und auf der anderen Seite ist der Trockenboden für die Wäsche, den hat aber außer meiner
Omi und mir schon lange niemand mehr benutzt. Da hab ich das Bügelbrett aufgestellt, unter einem
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