Hendrikje, vorübergehend erschossen
ich hab ihm seinen Espresso hingestellt und ›Fröhliches Neues Jahr‹ zu ihm gesagt, aber er
nickte nur und nuschelte ›Dito‹, und das hat mir dann gleich wieder gereicht.
Ich habe angefangen, Ernst herbeizusehnen, ich dachte, scheiß doch der Hund drauf, dass er nur mein Geliebter ist und nicht
mein Freund, hoffentlich kommt er bald aus dem Skiurlaub zurück, damit ich mir mit ihm die Bettdecke übern Kopf ziehen kann.
Ich dachte, Mensch, ich fahre am Abend nach der Arbeit nicht nach Hause, sondern gleich zu Ernst, auf meinem schönen roten
Rennrad, ich dachte, heute muss er doch aus dem Skiurlaub kommen, die 14 Tage sind doch heute rum. Ich war ganz besessen von
der Idee. Ich habe Feierabend gemacht und das Café abgeschlossen, und wie ich zu dem Fahrplan der Bahn komme, an dessen Metallrahmen
ich immer mein schönes rotes Rennrad anschließe, da hing da nur noch das durchgesägte Schloss und mein schönes rotes Rennrad
war weg.«
»Ich halts nicht aus«, stöhnt die Palmenberg leise und stützt ihren Kopf erschöpft in die Hand, ihre Schreibhand, mit der
sie schon lange nicht mehr mitschreibt.
»Genau dasselbe hab ich auch gedacht«, sagt Hendrikje, die Palmenbergs Bemerkung als Mitgefühl missversteht. »Also ganz abgesehen
davon, dass es ein Koga-Miyata war, das mal 2000 Mark gekostet hatte …«
Die Palmenberg schaut Hendrikje an und fatalisiert: »Vielleicht mit ’ner kleinen Campagnolo-Ausrüstung …?«
Hendrikje bestätigt das: »Ja, genau, mit einer Titan-Campagnolo-Ausrüstung, Sie kennen sich ja aus!«
|57| »Natürlich kenne ich mich aus«, seufzt die Palmenberg müde. »Und ich verstehe nicht, wie man ein Koga-Miyata am Bahnhof stehen
lassen kann.«
Hendrikje horcht auf und verstummt. Darauf also will die Palmenberg hinaus: Dass alles immer ihre, Hendrikjes, Schuld sein
soll, sogar der Diebstahl ihres Fahrrads. Sehr einfach, was die Lady da macht, sehr einfach.
Doktor Palmenberg erinnert sich an ihre Bestimmung und rappelt ihren Oberkörper mühsam wieder hoch. Sie macht ein diszipliniertes
Gesicht. »Weiter.«
Hendrikje reckt langsam und stolz ihr Kinn in die Höhe und überlegt, ob die Palmenberg weiteren Atem wert ist. Und berichtet
der leidgeprüften Psychologin in überlegenem Ton, was weiter geschah: »Ich bin dann zu Ernsts Wohnung
gelaufen.
Ich hab bei ihm geklingelt, aber es hat keiner aufgemacht, also hab ich mich auf die Stufen vor dem Haus gesetzt und gedacht:
Ich kann ja ein bisschen warten, vielleicht kommt er ja noch. Es fing an zu schneien, und ich saß auf den Stufen und guckte
zu, wie der Schnee in den Autoscheinwerfern vorbeijagte und auf der Straße liegen blieb, und merkte noch, wie alles leiser
wurde. Das war der Schnee, der die Straße und die ganze Stadt ganz leise machte, und ich weiß noch, dass ich das schön fand
und dachte: Siehste Hendrikje, du hast immerhin noch so viel Nerven, dass du das genießen kannst, das Leben geht also weiter.
Dann wurde es mir langsam kalt, und als ich schon überlegte, dass ich nun aber doch bald mal heimgehen müsste, da stand Ernst
plötzlich vor mir. Mit seinen Skiern über den Schultern, braun gebrannt und seine Reisetasche in der Hand, und ich war wie
erlöst.
›Was machst du denn hier?!‹, fragte er mich und sah nicht so aus, als würde er sich übermäßig freuen.
›Ich warte auf dich‹, hab ich ihm geantwortet, und er nickte |58| nur, ohne was zu sagen. Er warf seine Reisetasche an mir vorbei, nahm die Skier von seiner Schulter, lehnte sie mit besonderer
Vorsicht an die Hauswand und blieb dann einfach stehen, wo er stand, und guckte mich an, guckte mich – wie soll ich sagen?
– irgendwie
tonlos
an. Ich kriegte langsam ein echt mulmiges Gefühl in der Magengegend, ich dachte: Irgendwas stimmt hier aber nicht.
›Das darf doch nicht wahr sein‹, sagte Ernst genervt. ›Du sitzt hier wie ein herrenloses Hündchen in der Kälte und wartest,
dass ich aus dem Urlaub zurückkomme.‹
Ich weiß auch nicht, was mich da geritten hat, aber irgendwie hatte ich schlagartig keine Lust mehr, Ernst zu erzählen, was
in der Zwischenzeit alles passiert war. Ich fand das jedenfalls nicht sehr freundlich von ihm, mich so zu begrüßen, und wie
ich noch so überlegte, dass er vielleicht eine anstrengende Heimreise gehabt haben könnte, fiel mir ein, dass doch Sophie
mit im Skiurlaub gewesen war, und ich erinnerte mich an das Bild der beiden, wie sie gemeinsam vor dem Farbkopierer
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