Hendrikje, vorübergehend erschossen
sorry – Fahrrad geklaut und so … das würde mich auch irritieren.‹
Freund weg!
Er sagte tatsächlich:
Freund weg,
nicht etwa: ›Geliebter weg‹ oder ›Nicht-Freund weg‹! Und dann sagte er, dass er sich das mit dem Stek überhaupt nicht vorstellen
kann, dass der sich durch Zugkraft gelöst haben soll, was das denn für’n Stek gewesen wär. Und dann verlangte er einen Bindfaden,
weil er das mal ausprobieren wollte, und ich holte aus Omas Küchenschublade einen ihrer aufgehobenen Bindfäden, und Ernst
saß da und krokelte und friemelte an dem Bindfaden herum, bis er so was wie einen Stek gebaut hatte. Und als er ihn ausprobierte,
löste sich auch der. Ernst schmiss den Bindfaden auf den Tisch, und ich rauchte und schaute mir den Faden an und sagte: ›Wenn
die Indianer fertig sind mit ihrem Leben, dann gehen sie ins Gebirge, machen so ’ne Art Sterbemeditation und nach drei Tagen
sind sie tot.‹
|67| Lisa verzog ungläubig das Gesicht und sagte angewidert: ›Da würd ich mir aber lieber gleich die Pulsadern aufschneiden!‹,
und Ernst erwiderte ihr ganz besorgt: ›Aber du weißt, dass man das in der Badewanne machen muss!‹
›Ja, aber ich würd’ mich niemals umbringen …‹, meinte Holger, und Ernst sagte: ›Ich würd’ mir ’nen goldenen Schuss setzen,
ein Abgang in Würde ist besser als ein würdeloses Leben.‹ Sophie schaute ihn daraufhin ganz besorgt an, aber Ernst küsste
sie zur Beruhigung gleich auf den Mund. ›Ich meine nur‹, sagte er, ›man muss loslassen können. Und manchmal muss man alles
loslassen.‹
Nur Holger fand das ganze Gespräch irgendwie nicht so witzig und sah ein bissel bleich aus. Er guckte von einem zum anderen
und sagte: ›Ja, aber man kann doch nicht …‹, und da bin ich ihm ins Wort gefallen und hab gesagt: ›Doch Holger, man kann.‹
›Und wie man kann!‹, warf Lisa ein und dann erzählte sie von ihrem Ethik-Professor, den sie früher mal an der Uni gehabt hatte.
Der hatte alle seine Freunde zu einem geradezu prunkvollen Abendessen eingeladen, hatte einen Geiger engagiert, der wunderschöne
Zigeunerweisen spielte und ging irgendwann ganz unauffällig aus dem Zimmer. Keiner der Freunde bemerkte irgendwas, erst nach
längerer Zeit fragte einer, wo denn eigentlich der Gastgeber geblieben wäre. Sie gingen durchs Haus und fanden ihn in seinem
Arbeitszimmer – erhängt.
›Ja, aber das war bestimmt ein Russe‹, sagte Holger, und Lisa bestätigte: ›Ja, stimmt genau, das war ein Russe.‹
›Ja, die Russen, die machen so was‹, sagte Holger, ›aber wir …‹
›Du predigst doch immer‹, sagte ich zu Holger, ›dass wir sonst was von den Russen lernen können.‹
Und Holger sagte: ›Ja, aber doch nur für’s Leben …!‹
|68| Und ich dachte nur: welches Leben?
Ich sah Ernst an und sah, wie verschwiemelt und aufgedunsen er aussah, und daneben die bildschöne Sophie, und ich fragte mich,
wieso Sophie sich von Ernst vögeln lässt, der doch der schlechteste Liebhaber war, den man kriegen kann. Ich dachte an meine
Arbeit im Café und an Goebbels, und das sollte ja in Zukunft mein einziger Lebensinhalt sein: da so viel arbeiten, wie’s ging,
Goebbels überreden, mir Zusatzschichten zu geben, damit ich meine Schulden bezahlen könnte, und Sugar Browns Kolumnen, die,
wenn ich Pech hätte, in Zukunft aus Kochrezepten bestehen würden.
Lisas Ethikprofessor, dachte ich, hatte Stil bewiesen. ›Ein rauschendes Fest geben, mit allen Freunden‹, sinnierte ich, und
ich weiß, dass ich dabei lächelte, ›das wär’s überhaupt. Im Kreis aller Freunde, nicht so allein wie ich letzte Nacht auf
dem Dachboden, und Musik und gute Getränke. Das ist schön und erhaben, so zu gehen …‹
Keiner sagte was. Alle guckten mich an. Ich glaube, das war die Stelle, wo sie merkten, dass ich es ernst gemeint hatte in
der vergangenen Nacht, Stek hin oder her. Mir wurde plötzlich ganz leicht ums Herz, ich sah Ernst an und fand ihn plötzlich
beklagenswert hässlich, daneben Sophie, deren Naivität mich aufrichtig erschütterte, Lisa, die müde und faltig aussah und
der ich wünschte, dass sie wilde Nächte mit Dieter haben würde, damit sie nicht so wahnsinnig griesgrämig rumlaufen müsste,
und Holger, der immer nur lieb und fleißig war, fleißig und lieb, und den niemand für voll nahm und von dem ich plötzlich
befürchtete, er müsse eines Tages mindestens Amok laufen und Schulkinder als Geiseln nehmen, damit
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