Hendrikje, vorübergehend erschossen
Tanzen, weil ich an Dieter dachte, und da rief Lisa uns alle zur Ordnung und wollte,
dass wir uns an den Tisch setzen.
Die Musik verstummte, wir setzten uns hin, und nun wollte Lisa, dass ich meinen Abschiedsbrief vorlese. Ich ging in die Küche,
fischte ihn aus der Einkaufstasche und ging damit zurück ins Esszimmer. Ich habe den Brief laut vorgelesen. Dass ich halt
bei klarem Verstand und aus freiem Willen aus dem Leben trete, dass meine Freunde mir verzeihen mögen, dass ich – ohne vorher
was zu sagen – sie mit meinem Selbstmord konfrontiere und dass der Erlös von Omis Schmuck nach Leningrad gehen sollte.
Lisa fand den Brief juristisch unbedenklich, und Ernst holte einen
Hamburger Untermietvertrag
heraus, den er besorgt hatte. Wir haben den zwei Jahre zurückdatiert und so ausgefüllt, dass es aussah, als ob Ernst schon
seit zwei Jahren bei mir und der Omi zur Untermiete gewohnt hätte, damit mein Vermieter ihn nicht so schnell rausschmeißen
kann. Dann habe ich ihm alle drei Schlüsselpaare meiner Wohnung ausgehändigt, und Ernst hat sie eingesteckt. Dann sagte Lisa,
das Beste wäre, ich würde den Abschiedsbrief am Körper tragen, und so steckte ich ihn mir in den BH.
Dann ging Ernst in die Küche, um den Nachtisch zu machen: Champagnersorbet von Zitroneneis. Seltsamerweise stieg meine gute
Laune immer mehr, das Fest war nämlich bisher unheimlich nett und schön gewesen, und ich hatte nicht mehr so richtige Lust,
heute zu sterben. Ich wollte noch tanzen, und ich tanzte mit Holger zu dem Lied
Oh
baby, save your last dance for me.
Ich sang mit, und Holger grinste, und wir hatten richtig Spaß. Ich habe allen noch mal Rotwein eingeschenkt und |99| mein Glas gleich auf einen Zug ausgetrunken, so wohl war mir. Holger legte noch andere Schallplatten auf und tanzte und freute
sich mit mir. Dann kam Ernst aus der Küche zurück. Er trug ein Tablett mit fünf Champagnersorbetschalen, weil wir ja fünf
Personen waren. Er verteilte die Sorbets an unsere Plätze und rief uns, wir sollten alle kommen und uns setzen, der Nachtisch
wäre fertig und würde sonst wegschmelzen. Aber ich wollte gar keinen Nachtisch, und das hab ich auch gesagt. Ich bin nur schnell
zum Tisch, um mir noch mal Rotwein einzugießen und hab mit Holger weitergetanzt, und da wurde Ernst sehr streng und sagte:
›Hendrikje, es reicht jetzt! Alle hier am Tisch wollen jetzt den Nachtisch essen!‹
Alle setzten sich, und auch Holger, der mit mir auf unserer kleinen improvisierten Tanzfläche stand, ging zum Tisch, denn
er isst ja so gerne Eis. Ich bin auf der kleinen Tanzfläche stehen geblieben und habe die Musik ganz leise gedreht und habe
gesagt: ›Leute, ich muss euch leider enttäuschen, aber ich will nicht mehr sterben. Mir geht es
so gut
, es ist alles
so schön
, und ihr seid alle
so nett
zu mir – das Leben ist schön!‹
Holger nickte und war schon dabei, sein Sorbet zu essen und rief fröhlich: ›Mein Gott, jetzt hat sie’s!‹
Lisa und Sophie dagegen saßen stumm und konzentriert am Tisch, sahen sich mit Leidensmienen an und löffelten mit abgespreizten
kleinen Fingern ihre Sorbets.
Ich glaube, Holger war der Einzige, den meine Umentscheidung freute. Ernst stand hinter meinem Stuhl, über dem meine Jacke
hing, und sagte: ›Komm, Hendrikje, jetzt werd nicht kindisch. Lass uns erst mal essen jetzt.‹
›Ich will aber tanzen!‹, rief ich und ich drehte die Musik wieder laut und fing an, mich dazu zu bewegen. Aber da kam Ernst
und stellte die Musik ganz aus.
|100| ›He!‹, hab ich zu ihm gesagt, ›soll’n das!?‹
Ernst nahm mich vorsichtig am Arm, aber ich machte mich los und er sagte: ›Das schmilzt doch nur, das Zeug.‹
›Das ist mir egal‹, sagte ich, und: ›Du hast hier sowieso nix zu bestimmen! Auch nicht, wer mein letzter Lover ist und so’n
Zeug!‹
Ich fing plötzlich an, mich tierisch aufzuregen über Ernst. Ich weiß auch nicht wieso, das war der Alkohol. Also musste ich
weitermachen und ich hab zu ihm gesagt: ›Ich hab jedenfalls vor drei Tagen mit einem gevögelt, ach was red ich,
Liebe gemacht
hab ich mit dem, Ernst, da tun sich Welten auf, die kannst du nicht mal buchstabieren!‹ Ich bin zum Plattenspieler und hab
den wieder laut gedreht, aber Ernst ging hin und hat ihn ausgestellt.
Totenstille im Raum. Ich sehe, dass Lisa und Sophie mit genervt-gleichmütigen Mienen ihr Sorbet essen und dass Holger am Tisch
sitzt und feixt. Ihm gefiel das. Er hatte
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