Hendrikje, vorübergehend erschossen
auszuräumen. Die war voll mit Gänsen, Flugenten und Gefrierspinat, das musste
alles raus, alles auf einmal und Lisa ärgerte sich mächtig darüber, dass das alles nun auftauen und verderben würde.
Dann war die Truhe leer und wir sind wieder alle nach oben, um Holger zu holen. Wir hatten ihn, ehe wir ihn oben allein ließen,
wieder richtig mit seinem Stuhl hingesetzt, wir wollten ihn ja nicht einfach so am Boden herumliegen lassen, und so saß er
da stoisch am Tisch und harrte seines Schicksals. Ernst hat es geschafft, ihn zu schultern, und ist mit ihm langsam und vorsichtig
diese steile Kellerstiege hinuntergeklettert, während Lisa an der Bodenklappe kniete und Holger immer ein bisschen drückte
und schob, damit er nicht stecken blieb. Ernst war unten, Lisa ging hinterher. Dann kam Sophie und dann ich. Es war relativ
eng da unten und die Kellerdecke war so niedrig, dass ich immer noch halb auf der Stiege stand, als Ernst und Lisa den Holger
in die Gefriertruhe legten.
Dann haben sie den Deckel geschlossen und Holger lag |107| definitiv auf Eis. Lisa schaute zitternd auf die Spinatschachteln und Flugenten, die am Fußboden lagen, und Ernst schnaufte
aus, wischte sich den Schweiß von der Stirn, nahm Sophie in den Arm und schaute dann zu mir hoch. Auch das war ein Blick,
von dem ich glaubte, er könne mich direkt zu Holger ins Eis befördern, und Ernst drohte:
›So,
Hendrikje. Und nun zu dir.‹
Da kriegte ich Angst. Ich erinnere mich sehr genau, dass mir schlagartig die Knie zitterten. Ich sah, wie Ernst Sophie behutsam
aus seinen Armen entließ und bedrohlich direkt auf mich zukam. Da bin ich wie der Blitz die Stiege hochgerannt. Ich weiß noch,
dass ich bei jeder einzelnen Sprosse fürchtete, mit meinen hohen Absätzen hängen zu bleiben, aber wie durch ein Wunder kam
ich ohne auszurutschen oben an. Ich bin raus aus der Bodenluke, habe die schwere Tür vom Boden gerissen und die Luke geschlossen,
eine Millisekunde, ehe Ernst sie erreichte, ich weiß noch, dass es beim Schließen der Luke dotzte, das war Ernsts Kopf, so
nah war er schon hinter mir. Ich konnte die Luke nur schließen und mit dem Eisenriegel verriegeln, weil ich mich draufstellte.
Ich hab also die Luke verriegelt, den Teppich drübergelegt und bin rausgerannt, ohne meine Jacke mitzunehmen, so panisch war
ich und so heiß war mir auch. Ich sah mich im Hof um, da standen die Autos, aber ich habe nie Autofahren gelernt, und ich
wollte jetzt auch nicht viel Zeit damit vertrödeln, in Ernsts und Holgers Taschen nach deren Autoschlüsseln zu suchen, um
es auszuprobieren. Aber da war ja noch das Fahrrad. Es war rostig und hatte zwei platte Reifen und keine Luftpumpe, und wie
ich zu Beginn des Abends gehört hatte, funktionierten die Bremsen nicht, aber das war mir jetzt egal. Ich hab es mir geschnappt
und bin losgeeiert mit dem Rad, runter vom Hof und auf die Landstraße.
Ich bin auf diesem Fahrrad ohne Licht in schwarzer Nacht |108| von Schleswig-Holstein zurück nach Hamburg geeiert, es waren wohl gute fünfzig Kilometer, und es war kalt, ach was sage ich,
es war mehr als kalt. Es war nasskalt und eisig, und ich hatte nicht einmal eine Jacke an und mit diesem platten Rad konnte
ich nicht mal schnell genug fahren, als dass mir warm davon geworden wäre.
Es war immer noch dunkel, als ich den Stadtrand von Hamburg erreichte, und da hab ich das Rad an der ersten S-Bahn-Station
stehen lassen und bin mit der Bahn in die Stadt reingefahren. Ich war blau gefroren, ich konnte mich kaum bewegen, die Leute
in der Bahn haben mich mit angewiderten Gesichtern angeguckt, weil ich wohl wie ein Junkie aussah, aber mir war’s egal. Ich
dachte: nur schnell heim und in meine Wohnung, da kann ich ein heißes Bad nehmen.
Erst als ich vor der verschlossenen Haustür stand, fiel mir ein, dass ich ja gar nicht reinkonnte, weil ich Ernst die Schlüssel
gegeben hatte, und dass es sowieso nicht ratsam wäre, in meine Wohnung zu gehen, denn wenn die sich in Schleswig-Holstein
befreit haben würden, würden sie mich hier zuerst suchen. Ich dachte: Ich muss ins Café, ab neun Uhr ist da jemand, entweder
Goebbels oder eine Kollegin, und die müssen mir helfen.
Es ging jetzt auf acht Uhr zu, und weil es kalt war, bitterkalt, dachte ich, ich fahre zum Bahnhof, da ist es warm, da warte
ich, bis das Café aufmacht. Also bin ich zum Bahnhof und lief in der Wandelhalle herum, ich konnte aber in keins der Cafés
gehen, weil
Weitere Kostenlose Bücher