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Hendrikje, vorübergehend erschossen

Titel: Hendrikje, vorübergehend erschossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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mein Atelier mit allen Bildern abgebrannt wär, und er guckte
     mich an und glaubte mir kein Wort. Er sagte, dass es das manchmal gäbe bei Künstlern, dass sie vor ihrer ersten großen Ausstellung
     so ’ne Angst kriegen, dass sie sich in so eine Angstfantasie von verbrannten Werken so sehr reinsteigern, bis sie es selber
     glauben, ich bräuchte aber keine |114| Angst zu haben, denn die Bilder, die er auf den Dias gesehen hätte, wären einfach nur gut. Ich habe ihm gesagt, dass dies
     leider keine Angstfantasie wäre, sondern die Wahrheit, dass ich sogar hoch verschuldet wär wegen des Brandes und dass ich
     vor der Ausstellung überhaupt keine Angst gehabt hatte, sondern nur Freude.
    Rothwein schaute mich nur an, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und sein Blick wurde immer kälter. Ich guckte abwechselnd auf
     den Fußboden und in sein Gesicht, und ich konnte ihn verstehen. Ich hatte ein Baby gehabt und nicht drauf aufgepasst und das
     Baby war gestorben, und damit hatte ich mich für alle Zeiten als Mutter diskreditiert. So muss man das sehen, und so sah das
     Rothwein. Nach einer Ewigkeit nickte er, nur ganz wenig, und ich wusste, ich war entlassen, ich durfte gehen, die Audienz
     war beendet. Ich war so gefesselt von ihm und seinem würdevollen Ekel, dass ich die Galerie tatsächlich
rückwärts
verlassen habe. Ich ging rückwärts raus, erst vor der Tür drehte ich mich um und
schlich mich
.
    Es war schon Abend geworden, und so bin ich in die
Grüne
Palme
, weil ich hoffte, dort Dieter zu treffen. Aber in der
Grünen Palme
saßen nur die neun Milchgesichter am Tresen, und es fehlte der zehnte Mann. Und obwohl die Milchgesichter sich immer umdrehen,
     wenn die Tür aufgeht, drehte sich heute niemand nach mir um, weil ich in Brunos Klamotten hereinkam und ein bissel gestresst
     wirkte.
    Ich hab die Barfrau nach Dieter gefragt, und die sagte ganz enttäuscht: ›Ach, du meinst den Schönen mit dem Segelschiff? Nee,
     der war schon lange nicht mehr da, das wüsst ich.‹ Also Dieter war wie vom Erdboden verschwunden. Und ich hatte nicht die
     geringste Ahnung, wo ich hin sollte. Mir war klar, dass es besser für mich wäre, mich nicht in der Nähe meiner Wohnung blicken
     zu lassen, und so bin ich einfach |115| immer weiter durch die Stadt gewandert, es war Ende Januar und nicht wärmer geworden.
    Ich bin sehr weit gelaufen, ich war schon in Ottensen, und da dachte ich, also wenn das so weitergeht, dann muss ich zurück
     zu Bruno, aber wie superpeinlich würde das sein. Und natürlich lag Holger mir auf der Seele, ich dachte, ich muss nur diese
     Nacht überstehen, und dann muss ich mir ernsthaft überlegen, ob ich in die Lüneburger Heide fahre zu Holgers Mutter und der
     alles erzähle. Die aber würde mich, das war mir klar, lynchen, und da dachte ich: Wieso mich, wieso nicht Ernst, der das Sorbet
     vergiftet hat?«
    »Das heißt, erst als Sie gezwungen waren, sich über Ihre Verantwortung an Holgers Tod Gedanken zu machen, waren Sie bereit,
     Ernst die Schuld zu geben?«
    »Ja, schon. Das Gewissen ist ein Verdrängungskünstler.«
    »Ich glaube, der Verstand ist ein Verdrängungskünstler, nicht das Gewissen.«
    »Wie auch immer. Jedenfalls bin ich noch weiter gelaufen und stand plötzlich vor einem Abbruchhaus, ein allein stehendes,
     vierstöckiges, uraltes Patrizierhaus, und ich dachte: gut, vier Wände, wunderbar. Ich bin rauf auf das Grundstück, und da
     sah ich, dass im ersten Stock des Hauses ein ganz kleines, funzeliges Licht brannte, und ich dachte: Gut, da ist schon jemand,
     da bin ich wenigstens nicht alleine. Die unteren Fenster und die Tür waren mit Brettern vernagelt, aber nach einiger Zeit
     hab ich einen Eingang gefunden: Ein Souterrainfenster war offen, da konnte ich einsteigen. Ich hab das Erdgeschoss gefunden
     und das Treppenhaus und bin in den ersten Stock gegangen. Da hab ich den schwachen Lichtschein gesehen und bin dem nach, er
     kam gleich aus dem ersten Zimmer, das am Anfang des Flurs lag. Ich bin vorsichtig hingeschlichen und erst mal im Türrahmen
     stehen geblieben, um zu gucken.
    |116| Auf dem Fußboden brannte eine einzige Kerze, und ich sah, dass eine, nein: zwei Gestalten sich in die Ecke drückten.
    Mir wurde flau, und ich duckte mich automatisch ein bisschen in mich selbst hinein. Aber dann kapierte ich, dass es die beiden
     Gestalten waren, die vor
mir
Angst hatten. Dann hörte ich ein fiepsiges Winseln und merkte, dass eine der beiden Gestalten ein Hund war, ein

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