Hendrikje, vorübergehend erschossen
einpacken,
so viel sie kann, und unten im Boden des Schrankes würde sie zwischen den Monopoly und Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spielen ein
kleines flaches Schmuckkästchen finden, das meine Großmutter 1945 vor den Russen gerettet hat. Das wär das Wichtigste, das
zuerst. Paula nickte sehr verständig und wiederholte laut, was ich ihr gesagt hatte, und ich dachte: Prima, die schafft das.
Sie nahm ihren Rucksack und zog los.
Ich arbeitete weiter an Dieters Armen, aber ich war sehr unruhig, ich dachte: O Mann o Mann, hoffentlich geht das gut. Ich
wurde sogar so unruhig, dass ich nicht weiterarbeiten mochte, ich dachte plötzlich, eigentlich sollte ich eine Zeitung haben,
damit ich Sugar Browns Kolumne lesen könnte, das wird mich ablenken. Und ich dachte, Mensch, Paula klaut so viel Zeug zusammen,
da werd ich es doch wohl schaffen, eine Zeitung zu klauen. Ich bin raus aus dem Haus und zum nächsten Tabakladen, da stand
ein Zeitungsständer gleich an der Tür, der Verkäufer schwatzte mit zwei Männern, die bei ihm Bier tranken und rauchten, und
ich hab die Zeitung ganz vorsichtig rausgezogen und bin im gestreckten Galopp weggerannt. Die haben es zwar gemerkt, die haben
mir auch noch was hinterhergerufen, morgen müsste ich mir also meine Kolumne woanders besorgen, aber heute hatte ich es erst
mal geschafft. Ich hab mich gefreut wie ein Schneekönig und bin zurück ins Haus mit meiner Zeitung und habe mich schön gemütlich
in den Schlafsack |123| gekuschelt, es war jetzt schon Februar geworden, wie ich in der Zeitung lesen konnte, und es war immer noch kalt. Moment,
ich hab’s dabei.«
Hendrikje lehnt sich weit im Sessel zurück und hebt das Becken an, um besser mit beiden Händen gleichzeitig in ihren Hosentaschen
wühlen zu können. So findet sie ihren ausgeschnittenen Zeitungstext.
»Soll ich?«, fragt sie und hält das zusammengefaltete streichholzschachtelgroße Papierpäckchen hoch, und die Palmenberg nickt
wie man einem Kind zunickt, dem man nach langem Betteln nachgibt.
Hendrikje entfaltet das Papier und liest vor:
Was hätten Sie lieber? Tote Freunde oder lebendige
Freunde? Keine einfache Frage, ich
weiß, ’s is unterschiedlich, das kann man
so nicht sagen. Aber wie man so manchem
Mitmenschen wünscht, er möge in der Hölle
braten, so wünscht man das auch manchem
Freunde. Und wünscht es ihm zu Recht. Zum
Beispiel das Arschloch, das mir die Freundin
ausgespannt hat, war mal ein Freund. Oder
zum Beispiel meine Freundin Sabine, Nymphomanin
mit ausgeprägtem Sammlertrieb,
ruft mich einmal täglich an und heult sich bei
mir über ’nen täglich anderen Kerl aus. Aber
nicht mit mir, lange lasse ich mir so was nicht
gefallen, ich habe Sabine verboten, mich je
wieder anzurufen. Horst der Schnorrer ist
schlauer, der ruft nicht an, der kommt gleich
vorbei, quatscht sich fest, beklaut mich, geht
trotzdem nicht und will gekocht kriegen und
zu trinken haben, und der Abend, die Nacht
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und der nächste Arbeitstag sind hin. Ich habe
den schon zum Teufel gewünscht, da stand
die Berliner Mauer noch, aber er kam wieder
und wieder. Jetzt bin ich schlauer: Ich erkenne
seine Schritte bereits im Treppenhaus, und
wenn’s klingelt, mach ich nicht auf. Ich weiß,
dass er wartet, bis zu einer Stunde und länger,
ich muss mich also eine Stunde und länger tot
stellen und darf nicht das kleinste Geräusch
machen, nicht mal pupsen, und dann höre ich,
wie er weggeht im Treppenhaus, stehe leise
auf, schleiche ans Fenster und beobachte aus
gutem Sicherheitsabstand, wie Horst die Straße
’runtergeht. Und dieses Spiel spielen wir
seit dem Fall der Berliner Mauer.
Lieber, viel lieber sind mir meine toten
Freunde, besonders mein Kumpel O., der sich
vor einigen Jahren umbrachte und der seither
mein guter Geist ist. Es war ihm weiter gar
nichts passiert, er versah seinen Job scheinbar
ohne großen Widerwillen, hatte genug Geld
und die schönsten Frauen flogen auf ihn. Gelegentlich
erlaubte er einer, für kurze Zeit seine
Geliebte zu sein, bis sie ihn
flohen
. Warum
weiß ich nicht. O. war halt randvoll mit Weltenekel
, und wer könnte das nicht verstehen?
Von Haus aus Melancholiker, betrachtete er
sein beschauliches Leben als gescheitert und
ging, sich von der Köhlbrandbrücke zu stürzen
. In seinem Abschiedsbrief stand, der natürliche
Tod sei sowieso das zu erwartende allergrößte
Scheitern in dieser tätigen Welt, in
der man uns absurderweise darauf abrichtet,
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an unserer
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