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Hendrikje, vorübergehend erschossen

Titel: Hendrikje, vorübergehend erschossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Unsterblichkeit zu basteln. Und, so
schrieb er, da ihn diese Welt verwirft, nimmt
er sich den Tod, um die Welt zu verwerfen.
    Respekt. Ich fand das sehr mutig von O.,
dass er den gefürchteten, von uns allen immer
verdrängten Tod quasi am Schlafittchen packte
und zu ihm sagte: ›Komm her!‹ anstatt
›Geh weg!‹ und ihn an sich ranzog und ihn
zwang, ihm ins Gesicht zu gucken. Respekt.
    Und ich als sein Freund weiß nicht einmal,
seit wann er das wusste, seit wann er wusste,
dass er ein Selbstmörder war …
    Probleme habe ich allerdings mit der Ästhetik
. Sich von der Köhlbrandbrücke stürzen, in
dieses brackige Elbwasser, ich bitte Sie. Kleopatra
hat sich seinerzeit zwei Giftschlangen an
den Hals gesetzt, ekelhaft, man stelle sich vor,
man ist tot und auf einem kriechen die Viecher
noch rum und man weiß nicht, wohin die
kriechen, und Kleopatra war auch noch eine
Dame … Hemingway hat sich erschossen,
rücksichtslos. Muss man nicht ein bisschen an
die denken, die einen finden werden? Müssen
die das Gehirn von den Wänden meiner Jagdhütte
kratzen, hier ein Stückchen
Der alte Mann
… und dort drüben an der Scheibe etwas
vom
Schnee auf dem Kilimandscharo
?
    Wenn ich mich umbringen wollte, wüsste
ich wie, und ich bedaure, dass O. sich und
mich um das Vergnügen gebracht hat, bei dem
ich ihn sogar gern begleitet hätte: sich wie
Erich Kästner zum Beispiel totsaufen. Sich
totessen, sich totlieben, immer und immer
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wieder, so würde ich das machen. Und wenn
dann einer käme und mich dabei stören wollte
, den würde ich – wenigstens für eine Weile –
erschießen.
    »An dieser Stelle musste ich kichern«, unterbricht Hendrikje die Vorleserei, »wo Sugar Brown schreibt:
für eine Weile
erschießen,
ich fand das lustig.
    Ich kicherte, und in dem Augenblick kam Paula angerannt. Völlig außer Atem stand sie in der Tür, sie hatte das Schmuckkästchen,
     das meine Oma 1945 vor den Russen gerettet hatte, vor Lisa, Sophie, Ernst und den Handwerkern gerettet. Sie stand im Türrahmen,
     hielt es in der Hand und keuchte, offensichtlich war sie gerannt, aber ich kicherte gerade und sagte zu Paula so etwas wie:
     ›Paula, das musst du mal lesen hier, das ist so komisch, den, der mich stört, für eine Weile erschießen! Ist das nicht komisch!?‹,
     kicherte ich, ›
für eine Weile erschießen!‹
    Paula sah mich entsetzt und fassungslos an, schüttelte langsam den Kopf und legte, ohne in den Raum zu mir hereinzukommen,
     das Schmuckkästchen vorsichtig auf den Fußboden und rannte weg. Rannte einfach weg. Ich konnte mir Paulas Reaktion überhaupt
     nicht erklären und war sehr verwundert, aber ich dachte, die Kleine ist ja eh ein bisschen verrückt, die beruhigt sich schon
     wieder. Ich legte die Zeitung weg, pellte mich aus dem Schlafsack, in dem ich lag, und wollte zur Tür zu meinem Schmuckkästchen.
     Ich bückte mich über das Schmuckkästchen und war froh froh froh, dass es da war. Ich hob es auf und kam wieder hoch, und da
     stand Ernst vor mir, und dicht hinter ihm, an der Treppe, die hinunter ins Erdgeschoss führte, standen Lisa und Sophie.
    Ich war … ganz versteinert und fassungslos, wie Paula mich hatte so verraten können. Sollte ich mich so in ihr getäuscht |127| haben? Wie konnte sie die drei bloß hierher führen? Sie hatte sich doch so viel Mühe gegeben, alles wieder gutzumachen, sie
     hatte mir ihren Schlafsack überlassen und selbst auf der Hundedecke bei Paula geschlafen, Malzeug besorgt … War das alles
     nur geblufft? Und würde sich am Ende vielleicht doch noch herausstellen, dass sie das Feuer im Atelier mit Absicht gelegt
     hatte?
    Solche Gedanken tobten mir im Kopf herum und mein Herz raste, als ob es mir aus dem Brustkasten springen wollte, als Ernst
     ganz ruhig und freundlich zu sprechen anfing. Er sagte: ›Guten Tag, Hendrikje, mein Gott, hier steckst du also, und wir suchen
     dich überall.‹ Ganz freundlich. Ich nickte ganz automatisch und hatte so einen Kloß im Hals, dass ich nicht sprechen konnte.
     Da fuhr Ernst fort: ›Du musst dich doch nicht verstecken vor uns.‹ Er kam einen Schritt in den Raum hinein, und ich wich zurück
     vor ihm mit dem Schmuckkästchen in den Händen, das ich fest an mich drückte. Ernst sah sich um, sah die nackten, löchrigen
     Wände, an denen zum Teil Tapetenreste aus hundert Jahren klebten, und sah auch die beiden Arme mit den Segelschiffen, eins
     schlaff und eins prall segelnd. Er sagte: ›Du hast ja sogar schon wieder

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