Hendrikje, vorübergehend erschossen
angefangen zu malen‹, und ich nickte wieder. Ernst
ging ganz nah ran und besah sich die beiden Arme und sagte: ›Toll, diese Studien da, du weißt ja, dass ich immer ein Fan von
deinen Sachen war‹, und ich nickte, obwohl ich mich gerade gar nicht erinnern konnte, wann das gewesen sein sollte, dass Ernst
und ich mal über meine Arbeit gesprochen hätten, und dann fragte er in so einem leisen, ganz vertraulichen Ton: ›Sag mal,
warst du eigentlich schon bei der Polizei?‹, und ich schüttelte den Kopf und sagte: ›Nee … wieso?‹
Und Ernst sagte: ›Na, wir dachten, du würdest dich vielleicht stellen wollen. Das wirkt sich ja strafmildernd aus.‹
|128| Da wusste ich, dass es jetzt gefährlich werden würde. Natürlich fühlte ich mich schuldig, absolut und unumschmeißlich schuldig
an Holgers Tod, aber ich wusste auch, dass Ernst es gewesen war, der das Sorbet vergiftet hatte, und dass er der Letzte war,
der mich jetzt fragen durfte, ob
ich
mich schon der Polizei gestellt hätte.«
»Haben Sie ihm das gesagt?«
»Nee, das hab ich mich nicht getraut. Ich wusste, dann würde er explodieren, weil er das Sorbet ja gewissermaßen
auf meinen Wunsch
vergiftet hatte.«
»Ohne jedoch die anderen einzuweihen.«
»Um die zu schützen. Um die juristisch vor jeder Mitwisserschaft zu schützen.«
»Wie edelmütig.«
»Egal. Jedenfalls beißt die Maus keinen Faden daran ab: Ernst hatte das Sorbet auf meinen Wunsch vergiftet, wie also konnte
ich ihm das jetzt vorwerfen!? Ich wusste, dass er Recht hatte: Ich war schuld an Holgers Tod, ich hätte mich der Polizei stellen
sollen. Und seine Eltern saßen immer noch nichts ahnend in der Lüneburger Heide und glaubten ihren Sohn in Moskau auf ’nem
Übersetzer-Kongress, während er tot in Schleswig-Holstein auf Eis lag.
Dann fragte mich Ernst, wie ich mir denn mein weiteres Leben so vorstellte, wie ich weiterleben wollte mit dem Bewusstsein,
Holger getötet zu haben, auch noch jetzt, wo sich endlich ein Verlag für seine Neuübersetzung von
Krieg und
Frieden
interessierte, ausgerechnet jetzt, wo doch Holgers Leben endlich angefangen hatte. Dass ich mich zwar der Polizei stellen
könnte, und dass ich dann wahrscheinlich mindestens zehn Jahre lang ins Zuchthaus käme, vielleicht aber auch zwanzig, aber
ob ich wirklich meinen würde, dass ich in dieser Zeit vergessen oder verdrängen könnte, was ich Holger genommen hätte.
|129| Ich merkte, wie mir langsam schlecht wurde, und ich fing an zu heulen. Denn ich wusste, dass Ernst Recht hatte: Niemals würde
ich vergessen können, was ich Holger genommen hatte.
Ernst gab mir ein Taschentuch und zündete sich eine Zigarette an, und ich bat ihn, mir auch eine zu geben, und das tat er.
Ich hatte so weiche Knie, dass ich mich setzen musste, ich setzte mich also auf den Fußboden mit dem Rücken an die Wand, an
der Dieters Arme hingen, und rauchte diese Zigarette. Das Schmuckkästchen legte ich neben mich auf den Fußboden, und ich weiß
noch, dass ich dachte, Hendrikje, ich weiß nicht, ob du dir das leisten kannst, hier mit Ernst und weichen Knien Zigaretten
zu rauchen, vielleicht solltest du lieber …«
»Lassen Sie mich kurz unterbrechen«, sagt die Palmenberg, »wo befand sich zu diesem Zeitpunkt Ihr Abschiedsbrief?«
»Den hatte ich verbrannt. Am zweiten Abend bei Paula. Da kriegte ich plötzlich so’n Gefühl, dass ich dachte, es wär besser,
ich wäre ihn los, damit ihn keiner liest, und habe ihn über die Kerze gehalten.«
»Wusste Paula von seinem Inhalt?«
»Nein, ich hatte Paula nichts erzählt.«
»Gut. Fahren Sie fort.«
»Naja. Ich dachte jedenfalls, was sitze ich hier mit Ernst und mit weichen Knien und warum ist Ernst hier und was will der
eigentlich von mir, und draußen standen immer noch Lisa und Sophie, ich hatte jedenfalls nicht gehört, dass die weggegangen
wären, und wieso kamen die nicht zu uns rein? Und plötzlich dachte ich, Mensch, Ernst hat vielleicht neues Gift besorgt und
hat es dabei und will vielleicht nachholen, was wir neulich versäumt haben, wieso fragt der so scheinheilig, ob ich bei der
Polizei gewesen wäre, denn |130| wenn ich da gewesen wäre, dann wäre ich ja mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht hier im Abbruchhaus, die
hätten mich ja wohl kaum wieder laufen gelassen, wenn ich denen gesagt hätte, dass ich Holger umgebracht hab. Und da wurde
mir klar, dass ich irgendwie in Lebensgefahr schwebe. Ich habe die
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