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Hendrikje, vorübergehend erschossen

Titel: Hendrikje, vorübergehend erschossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Zigarette mit Absicht ganz langsam auf dem Fußboden ausgedrückt
     und auch richtig aufgepasst, dass ich jedes noch so kleine Glutstückchen ausdrücke, nicht, dass es gleich wieder brennt, und
     ich dachte noch: Hendrikje, jetzt musst du schnell sein, du hattest ’ne Lungenentzündung und du hast gerade geraucht, aber
     besser du bist jetzt schnell, und ich hab mich gesammelt und bin dann mit einem Satz, mit einem einzigen Satz aufgesprungen
     und rausgerannt.
    Ich wollte raus aus dem Haus, also die Treppe runter ins Erdgeschoss und in das Souterrain, wo das Ausstiegsfenster war. Aber
     an der Treppe standen Lisa und Sophie, und wie ich die sah, wie die da standen mit panisch verkniffenen Gesichtern, da wusste
     ich plötzlich, dass die mich nicht vorbeilassen würden, und also blieb mir nur noch die Treppe nach oben als Fluchtweg, und
     die bin ich raufgerannt. Ich hörte, wie Ernst in affenartiger Geschwindigkeit hinter mir herjagte.
    Ich bin ganz bis nach oben gerannt, und es ist mir bis heute nicht klar, wieso meine Kondition mir erlaubte, doch immer noch
     ein paar Meter Vorsprung vor Ernst zu haben, denn der Abstand zwischen uns vergrößerte sich tatsächlich. Wenn auch nicht so,
     dass ich Anlass zur Beruhigung hätte haben können. Er war immer noch hinter mir her, ich hörte seine Schritte und dass er
     keuchte. Ich kam auf dem Dachboden an, ein geräumiger, leerer Dachboden, auf dem ein paar Taubenleichen herumlagen. Die Bodenfläche
     hatte einen vermauerten Schacht in der Mitte: das Treppenhaus. |131| Um diesen Schacht bin ich herumgelaufen, ich habe ein Versteck gesucht, aber es gab natürlich keins.
    An der geraden Wand am Ende des Dachbodens gab es aber ein Fenster. Nicht eine Luke wie in den schrägen Dachwänden, sondern
     ein richtiges kleines Fenster. Ich hatte so eine Angst vor Ernst, dass ich guckte, was hinter dem Fenster kommt, und ich sah,
     dass in der Höhe des Fußbodens, auf dem ich stand, draußen der First eines anderen, viel kleineren Daches verlief. Darunter
     lagen die Erker der unteren Stockwerke. Ich erinnerte mich, von außen gesehen zu haben, dass das oberste Erkerzimmer einen
     kleinen Balkon hatte, und ich dachte, wenn es mir gelingt, auf dieses Dach zu klettern und ans vordere Ende zu gehen, dann
     kann ich mich von dort aus auf den Balkon runterlassen.
    Ich hab also das Fenster aufgemacht und bin ganz vorsichtig auf den Dachfirst geklettert. Ich musste wahnsinnig balancieren
     und durfte gar nicht runtergucken, denn es ging links und rechts nur noch über rote Schindeln nach unten.
    Ich hörte Ernst hinter mir atmen, und ich wollte mich umdrehen, um zu gucken, wo genau er ist, ob er mir etwa folgt oder nicht.
     Jedenfalls wollte ich ihn nicht im Rücken haben, und ich überlegte, wie ich das überhaupt machen sollte, mich umdrehen auf
     diesem Dach ohne abzustürzen. Ich hab mich also vorsichtig hingesetzt wie auf einen Turnbock und im Sitzen das linke Bein
     vorsichtig zum rechten Bein auf der rechten Seite gezogen und dann das rechte Bein wieder auf die andere Seite, so dass ich
     mich um 180 Grad gedreht hatte und Ernst angucken konnte, mit dem Dachfirst zwischen den Beinen.
    Ernst sah mich durch das Fenster an, und aus seinen Augen blitzte mir ein Hass entgegen, dass ich vor Schreck fast von diesem
     Dach gefallen wäre.
    ›Warum springst du nicht einfach runter?‹, fragte er mich, |132| und ich fand das ganz schön frech, weil mir jetzt dämmerte, dass er sich wahrscheinlich einen Vorteil davon versprach, und
     dass es gar nicht mein Seelenfrieden war, um den er sich sorgte, und da sagte er auch prompt: ›Für deinen Seelenfrieden.‹«
    »Was für einen Vorteil hätte sich Ernst Ihrer Meinung nach davon versprochen?«
    »Na, er fragte doch am Anfang, ob ich schon bei der Polizei gewesen wäre, um mich zu stellen, und dass das strafmildernd für
     mich sein würde. Und ich dachte am Anfang, er kommt, um mit mir zur Polizei zu gehen, um mich direkt selbst hinzubringen,
     damit ich mich stelle. Aber plötzlich dachte ich: Nee, der hat
Angst
, dass ich zur Polizei gehe und sage, dass
er
das Gift in das Sorbet getan hat. Dann ist
er
nämlich dran. Aber wenn ich meinen Selbstmord jetzt nachholen würde, wäre er fein raus aus der Sache.«
    »Mein Gott, Hendrikje, Sie merken ja auch wirklich alles …«, sagt die Palmenberg.
    »Ich weiß nur nicht«, sagt Hendrikje mit ratlosen Augen, »wieso Paula mir das angetan hatte, diese Leute zu mir führen …«
    »Gott,

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