Henkerin
hohle Stelle, nicht sonderlich groß, aber doch ausreichend, um als Versteck für einen Umhang zu dienen. Er gehörte einem ihrer Knechte und war entsprechend fleckig und zerschlissen. Rasch reckte sie sich nach oben, zog ihn hervor und reichte ihn Wendel.
Der Karcher musterte das Kleidungsstück verständnislos, doch schließlich nahm er es und streifte es über. Melisande deutete auf die Kapuze, und nach kurzem Zögern zog Wendel sie über seinen Kopf. Sie hoffte, dass die Verkleidung im Dunkeln ausreichen würde, und trieb Wendel zur Eile an.
Vor dem Tor blieben sie stehen.
»Wer da?«, ertönte eine Stimme, und ein Wächter trat aus dem Schatten hervor, die Hand abwehrend ausgestreckt.
Melisande stellte sich schützend vor Wendel und deutete einen Gruß an.
»Ach du bist’s, Melchior«, brummte der Wächter. »Mal wieder auf Kräutersuche? Zu so früher Stunde?«
Melisande nickte und deutete auffordernd auf das Tor.
Doch der Wächter machte keine Anstalten, ihrer Bitte Folge zu leisten. »Wen hast du da bei dir, Henker? Ich darf niemanden außer dir rauslassen, das weißt du doch.«
Melisande drehte sich ein wenig zur Seite, gerade so, dass der Wächter einen Blick auf den zerschlissenen Umhang werfen konnte.
»Einer deiner Knechte, ich sehe«, murmelte der Wächter. »Das wird wohl in Ordnung gehen. Du musst ja nicht immer alles allein schleppen.«
Er ging auf die kleine Pforte neben dem Tor zu und machte sich an dem Riegel zu schaffen, hielt inne und schlug sich mit der Hand an den Kopf. »Jetzt fällt es mir ein«, sagte er lauernd. »Order ist ergangen, dich nicht mehr aus der Stadt zu lassen.«
Auch das noch! Melisande seufzte stumm. Fast hätten sie Glück gehabt und das Tor ohne Umstände hinter sich lassen können. Nun musste sie eben zu einer List greifen. Wie gut, dass sie vorbereitet war! Sie suchte in ihrem Beutel, bis sie einen passenden Gegenstand gefunden hatte. Unerwartete Hindernisse erforderten ungewöhnliche Gegenmaßnahmen. Sie hielt einen kleinen Knochen hoch. Er stammte von einem Huhn, doch sie war sicher, dass der Wächter den Unterschied nicht bemerken würde. Sie selbst bezweifelte stark, dass den Gebeinen von hingerichteten Verbrechern magische Kräfte innewohnten, doch nicht wenige Menschen glaubten fest daran. Hoffentlich war der Wächter einer von ihnen! Mit erhobenen Händen streckte sie ihm das Knöchlein entgegen und bewegte stumm die Lippen, so als würde sie eine Beschwörungsformel aufsagen.
Der Wächter glotzte sie verunsichert an. »Was machst du da, Melchior? Was ist das für ein Teufelswerk?«
Sie trat näher, hielt den Knochen dicht vor seine Stirn.
»Verflucht seiest du, elender Henker! Lass mich in Ruhe, geh weg!« Der Wächter taumelte rückwärts.
Sie deutete auf das Tor, ohne ihre Lippenbewegungen zu unterbrechen oder den Blick von ihm abzuwenden. Im Licht der Fackel, die neben der Pforte in der Wand steckte, sah sie, dass auf der Stirn des Wächters kleine Schweißperlen funkelten und er immer blasser wurde. Aber er schickte sich nicht an, das Tor zu öffnen.
Melisande zückte ihre Tafel, kritzelte einen Totenkopf darauf und hielt ihn dem Wächter unters Kinn. Der sank auf die Knie. »Nimmst du den Zauber von mir, wenn ich die Pforte öffne?«, stammelte er.
Sie nickte und senkte den Knochen ein wenig, hielt aber die Tafel weiterhin hoch.
Der Mann stolperte auf die Pforte zu und entriegelte sie. Melisande schob erst Wendel hinaus, dann folgte sie ihm. Auf der Schwelle drehte sie sich noch einmal um, erhob die rechte Hand, malte ein großes Kreuz in die Luft und löschte den Totenkopf von der Wachstafel. Erleichtert senkte der Wärter den Blick und bekreuzigte sich.
Als die Pforte hinter ihnen zuknallte und der Riegel quietschend zurück an seinen Platz gerückt wurde, atmete Melisande erleichtert auf. Sie hatten es geschafft.
Vor dem Oberen Tor standen nur wenige Häuser, dafür breiteten sich vor ihnen im fahlen Licht des Morgengrauens Gärten und Felder aus. Rechts am Horizont war das große hölzerne Rad einer Mühle auszumachen, links tauchte nach wenigen Schritten die Mauer des Klosters St. Clara auf.
Wendel stöhnte bei jedem Schritt vor Schmerz, in sein Jammern mischte sich immer wieder Schluchzen. Sein Gewicht lastete so sehr auf Melisandes Schulter, dass sie diese kaum mehr spürte. Hoffentlich hatte der Bauer sie nicht betrogen, dem sie am frühen Abend eine horrende Summe für einen alten, aber zuverlässigen Gaul bezahlt hatte.
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