Henkerin
Tatsächlich! Schon von weitem sah sie das Tier, das an einen Baum gebunden war und in Ruhe graste. Erleichtert hastete sie darauf zu.
Mit wenigen Handbewegungen versuchte sie dem Karcher klarzumachen, dass dies alles war, was sie für ihn tun konnte, dass er nun allein zurechtkommen müsse.
»Ich werde nicht weit kommen, fürchte ich«, sagte er bitter. Seine Stimme klang rau und heiser, sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt, durch den Schmutz zogen Rinnen, die seine Tränen gegraben hatten. Offenbar hielt er sie nicht nur für einen durch und durch verderbten Menschen, sondern auch noch für dumm. Warum hätte sie ihr Leben aufs Spiel setzen und ihn bis hierher bringen sollen, um ihn dann mit zerstörten Füßen zurückzulassen? Sie deutete auf den Gaul.
»Du willst, dass ich das Pferd nehme?«, fragte er ungläubig.
Sie nickte ungeduldig. Warum war dieser Mann nur so schwerfällig? Mit seinem langsamen Verstand brachte er sie beide in höchste Gefahr. Sie musste ihn endlich loswerden, sie hatte genug für ihn getan. Zumal sie immer noch nicht wusste, ob er nicht doch ein Freund von Ottmar de Bruce war und den Tod vielfach verdient hatte.
»Und was wird aus dir?«, fragte Wendel leise. Er klang ehrlich besorgt. »Du kannst ebenso wenig zurück in die Stadt wie ich. Du hast einem Mann zur Flucht verholfen, der des Mordes beschuldigt wird.«
Melisande winkte gereizt ab und deutete wieder auf den Gaul. Noch einmal musste sie all ihre Kraft zusammennehmen, um Wendel in den Sattel zu hieven. Einen Herzschlag lang blitzte vor ihrem inneren Auge auf, wie sie den ohnmächtigen Adalbert aufs Pferd gehoben hatte. Die Erinnerung überrollte sie mit solcher Macht, dass ihr schwindelig wurde. Schnell schüttelte sie sie ab.
»Warum hast du das für mich getan?«, fragte Wendel, als er endlich auf dem Pferd saß. Er schien nicht eher losreiten zu wollen, bis sie ihm die Frage beantwortet hatte.
Sie zog die Tafel hervor und kritzelte etwas darauf. Im Zwielicht ließ sie ihn ihre Worte entziffern: »Weil du unschuldig bist.«
Ungläubig sah er sie an. Doch sie erwiderte seinen Blick nicht. Stattdessen gab sie dem Gaul einen Klaps auf das Hinterteil, sodass er sich langsam in Bewegung setzte. Zunächst sah es so aus, als würde der Karcher gleich wieder aus dem Sattel rutschen, doch als er sich gefangen hatte und das Tier zur Eile antrieb, bemerkte sie erleichtert, dass er ein guter Reiter war. Seine Füße würden ihn zwar weiterhin peinigen, aber zum Reiten brauchte er vor allem Schenkel und Waden, und die hatte sie während der Folter verschont.
Melisande sah ihm einen Moment hinterher, dann folgte sie ihm die Straße hinunter bis zu dem Graben, mit dem dieser Teil der Stadt, der außerhalb der Mauern lag, zum Schutz umgeben war. Sie überquerte die hölzerne Brücke, auf der wenige Augenblicke zuvor der Hufschlag von Wendels Gaul ertönt war. Noch war hinter ihr alles still, noch war ihre Flucht nicht entdeckt.
Sie wanderte ein paar Hundert Fuß auf der Landstraße und zwängte sich schließlich in ein Gebüsch. Gott sei Dank! Das Bündel mit ihren Habseligkeiten war noch da. Sie streifte das Henkersgewand ab und schlüpfte in das blaue Kleid. Am liebsten hätte sie sich einfach auf den Boden gelegt, sich den klaren Himmel und die Wolken angesehen, die darübertanzten. Sie war frei. Mathildes Worte kamen ihr in den Sinn. Ob die Frau des Braumeisters recht hatte? Würde sie einen Mann finden, Kinder gebären und in Ruhe und Frieden leben können? Wohl kaum, wenn sie sich ihren Schwärmereien hingab. Noch war sie nicht in Sicherheit.
Rasch setzte sie eine Haube auf ihre roten Haare und hüllte sich in einen einfachen Umhang, damit man sie auf den ersten Blick für eine Bäuerin halten konnte. Die Kleidung des Henkers verstaute sie in ihrem Bündel. Es war zu gefährlich, sie einfach zurückzulassen, denn damit hätte sie ihren Verfolgern die Richtung gewiesen, in die sie geflohen war.
Gerade als vom St.-Clara-Kloster her die Glocke zur Laudes läutete, trat Melisande zurück auf die Straße. Mit ein wenig Glück würde es noch eine oder zwei Stunden dauern, bis man das Verschwinden des Henkers und des Kerkerinsassen bemerkte. Bis dahin würde sie schon ein gutes Stück von Esslingen entfernt sein. Nicht weit genug, um den Suchtrupps zu entgehen, die überall nach zwei Flüchtlingen Ausschau halten würden, aber weit genug, um als fremde Bauersfrau zwischen den Reisenden auf der Landstraße nicht mehr
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