Henkerin
geworden.
Daran, was im Schelkopfstor vor sich ging, schien niemand interessiert zu sein. Der letzte Besucher war der Kürschnermeister Karl Schedel gewesen, der kurz nach Anbruch der ersten Stunde der Nacht im Inneren des Kerkers verschwunden und wenig später wieder vor dem Tor aufgetaucht war. Seither hatte Dietrich niemanden in der Nähe des Tores gesehen.
Er wollte sich gerade einen Schluck aus seinem Weinschlauch genehmigen, als er eine Gestalt ausmachte, die sich vom Markt her vorsichtig näherte, als wolle sie auf keinen Fall entdeckt werden. Er hielt den Atem an und starrte angestrengt ins Dunkel, konnte aber nicht erkennen, um wen es sich handelte. Offenbar wollte der Unbekannte zum Schelkopfstor.
Als die Gestalt in den Lichtkegel der Wachstube geriet, hätte Dietrich beinahe überrascht gepfiffen. Was in aller Welt wollte der Henker um diese Zeit im Kerker? Handelte er auf Anweisung des Rates, oder verfolgte er einen eigenen Plan? Dietrich wusste, dass so mancher Henker es sich gut bezahlen ließ, wenn er seinen Schützlingen den Aufenthalt in seiner Obhut ein wenig angenehmer machte, sie mit Speisen und Wein versorgte oder gar mit einem willigen Mädchen. Über den Esslinger Henker hatte er dergleichen jedoch nie erzählen hören.
Der Büttel, der Melchior die Tür öffnete, schien nicht weniger erstaunt zu sein. Nach einigen Fragen ließ er den Henker achselzuckend ein und verriegelte die Tür von innen. Vermutlich vermochte er die Worte auf Melchiors Wachstafel nicht zu lesen und war unsicher, ob der Henker mit einem offiziellen Auftrag gekommen war.
Dietrich bedauerte es, dass ihm kein Blick auf die Tafel gewährt gewesen war. Und dass der Kerker nicht wenigstens ein kleines Fenster hatte. So blieb ihm keine Möglichkeit, herauszufinden, was der Henker vorhatte. Vielleicht konnte er wenigstens einen Blick in die Wachstube erhaschen. Leise verließ Dietrich sein sicheres Versteck.
***
Selbst im strengsten Winter hatte Wendel nicht so gezittert wie jetzt. Es war Angst, pure Angst, die sich so fest in seinen Eingeweiden verbissen hatte, dass sie seinen ganzen Körper beben ließ. Sein linker Oberarm brannte vor Schmerz. Obwohl jemand ihn mit einer Tinktur bestrichen und verbunden hatte, hatte das Feuer kaum nachgelassen. In seinem Daumen, der ebenfalls in einem Verband steckte, pochte es, als würde der Schmied seinen Hammer darauf tanzen lassen. Seine Füße waren geschwollen. Er hatte nach der Tortur nur wenige Schritte gewagt, doch jeder einzelne davon hatte ihm Höllenqualen bereitet. Dieser Henker hatte ihn zum Krüppel gemacht.
Wendel wusste, dass dies erst der Anfang war, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, dass es Schmerzen gab, die noch schlimmer waren. Dieser Melchior würde ihn eines Besseren belehren, das stand fest. Er unterdrückte ein Schluchzen und begann seinen Oberkörper hin- und herzuwiegen.
Er dachte nach. Die Beweislast gegen ihn war erdrückend, also würden die Richter erst Ruhe geben, wenn sie ein Geständnis aus ihm herausgepresst hatten. Und aus einem Grund, den er nicht verstand, schienen sie es besonders eilig zu haben. Doch wie sollte er eine Tat gestehen, die er nicht begangen hatte? War es nicht auch eine Sünde, falsches Zeugnis abzulegen? Und was würde sein Vater sagen, wenn er erfuhr, dass man seinen Sohn, seinen ganzen Stolz, in Esslingen als geständigen Mörder hingerichtet hatte? Es würde ihm das Herz brechen.
Wendel schloss stöhnend die Augen. Er saß in der Falle, wie auch immer er sich verhielt, es konnte nur falsch sein. Und es würde ihn tiefer in diesen Strudel aus Angst und Schmerz ziehen. Allein der Gedanke an seinen Folterknecht ließ seine Füße brennen wie das Fegefeuer. Lange würde er die peinliche Befragung nicht mehr durchstehen. Und doch schien es ihm, als hätte dieser merkwürdige Henker seine blutigen Werkzeuge so behutsam wie möglich eingesetzt.
Verzweiflung machte sich in seiner Seele breit. Und wenn er dem Leiden ein Ende bereitete und sich einfach zu der Tat bekannte? Nein, er musste standhaft bleiben, schon allein um seiner Eltern willen. Doch seine geschundenen Glieder begehrten auf. Wenn er gestand, bestand immerhin Aussicht darauf, einen schnellen, schmerzlosen Tod zu erleiden, gestand er nicht, erwarteten ihn grauenvolle Qualen.
Über ihm pochte jemand gegen das Tor. Kamen sie schon wieder, weil sie endlich sein Geständnis haben wollten? Er machte sich klein, versteckte das Gesicht hinter den Händen, versuchte,
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