Henkerin
aufzufallen.
D IE F LUCHT
Als Kerkermeister Laurentz zur dritten Stunde des Tages in das Schelkopfstor trat, dröhnte ihm das Schnarchen seiner beiden Nachtwachen entgegen. Verärgert hämmerte er so fest mit der Faust auf die Tischplatte, dass die Würfel hochhüpften. »Zum Teufel mit euch! Faules Pack! Nennt ihr das Wachdienst? Die Schemel hätte man euch unter dem Hintern wegklauen können, und nichts hättet ihr bemerkt!«
Verschlafen schreckten die Männer hoch. Als sie den Kerkermeister erkannten, sprangen sie auf die Füße und grüßten ehrerbietig.
»Wir sind erst vor ein paar Augenblicken eingenickt«, stammelte der Jüngere. »Es war schon hell draußen, das kann ich beschwören.«
Es ist seit einer Ewigkeit hell«, schnauzte Laurentz zurück. »Um diese Jahreszeit dämmert es lange vor der ersten Stunde des Tages.«
»Aber es war alles still«, versicherte der ältere Wächter. »Nur der Melchior war einmal hier, um nach seinem Gefangenen zu sehen, wie es ihm die Ratsherren aufgetragen hatten.«
»Der Henker war hier?« Laurentz blickte sich unruhig um. Er wusste, dass Melchior in Ungnade gefallen war. Die Nachricht hatte ihn nicht überrascht. Er hatte diesem stummen Hänfling noch nie getraut. »Los! Her mit dem Schlüssel.« Er streckte die Hand aus. »Ich sehe nach, wie es dem Reutlinger geht. Betet zum Herrgott, dass alles in Ordnung ist.«
Laurentz eilte die Treppe hinunter. Was, wenn mit dem Reutlinger tatsächlich etwas nicht stimmte? Der Gedanke erschreckte ihn so sehr, dass er beinahe gestürzt wäre.
Die Tür zum Verlies war verschlossen. Laurentz blickte durch das Guckloch, konnte aber im Dämmerlicht nichts erkennen. Die Schlüssel rasselten, erst beim dritten Versuch erwischte er den richtigen. Er gab der Tür einen Tritt und machte einen Schritt ins Verlies. Es war leer.
»Herrgott!« Er stürzte zurück in den Flur und riss eine der Fackeln aus der Wandhalterung. Gründlich suchte er das Verlies ab, jeden Winkel, jede Ecke. Nichts.
Er rannte den Gang entlang zum großen Kerker. Ein paar hohle, ausdruckslose Augen starrten ihn an, als er die Fackel in alle Richtungen hielt, doch die des Reutlingers waren nicht darunter. Zum Schluss durchsuchte Laurentz den Thronsaal, eine Abstellkammer und ein zweites Einzelverlies. Nichts.
Angst machte sich in ihm breit. Wenn der Reutlinger entkommen war, würde man ihn dafür verantwortlich machen.
Mit schweren Schritten stapfte er zurück in die Wachstube. »Der Gefangene ist fort! Vermutlich hat Melchior ihm geholfen. Und ihr beiden Tölpel habt euch von ihm austricksen lassen.« Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Lauf sofort zu Schultheiß Remser!«, herrschte er den älteren Wärter an. »Und du ...« Er wandte sich an den jüngeren. »Du kannst schon mal anfangen zu beten.«
***
Die Sonne war schneller als sonst am Firmament emporgestiegen, schien es Melisande. Bisher war sie der Straße durchs Neckartal gefolgt, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Doch jetzt hörte sie vor sich das Schlagen von Hufen. Hastig sah sie sich nach einem Versteck um. Zwar kam der Reiter nicht aus Richtung Esslingen und konnte noch nichts von den zwei entflohenen Männern wissen, doch zu dieser frühen Stunde war jeder einsame Wanderer auf der Straße verdächtig, erst recht eine einzelne junge Frau.
Schon kam ein Reiter um die Biegung. Melisande hastete von der Straße und zwängte sich durch das feine Geäst eines Wacholderbuschs. Zweige und Nadeln zerschnitten ihr Gesicht und Arme, ihr Kleid riss am unteren Saum auf. Mit klopfendem Herzen wartete sie.
Der Hufschlag näherte sich, wenig später war der Reiter auf ihrer Höhe. Ohne seine Geschwindigkeit zu verlangsamen, galoppierte er an ihrem Versteck vorbei. Erst als das Hufklappern leiser geworden war, wagte Melisande, die Zweige auseinanderzudrücken und einen Blick auf den Fremden zu werfen. Der einsame Reiter trug die Uniform eines kaiserlichen Boten, sicherlich hatte er Dringlicheres zu erledigen, als sich über eine Frau zu wundern, die allein auf der Landstraße unterwegs war.
Melisande kroch aus dem Busch und streifte sich Zweige und Nadeln aus dem Haar und aus den Falten ihres Gewandes. Von nun an würde sie doppelt Acht geben müssen. Bald würde es von Reisenden nur so wimmeln, Bauern, die ihre Früchte zum Markt von Esslingen brachten, Händler auf dem Weg nach Stuttgart oder Ulm, Pilger auf ihrem langen Marsch nach Santiago.
***
Konrad Sempach traf Schultheiß Johann
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