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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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einmal völlige Ruhe. Er war nicht mehr allein. Der Henker würde ihn mit seinem Leben verteidigen.
    »Du willst dich wohl drücken! Kaum hast du einen schlechten Wurf, fallen dir deine Pflichten ein«, dröhnte eine zweite Stimme aus der Stube. »Aber so leicht kommst du mir nicht davon, die Runde wird zu Ende gespielt. Danach kannst du meinetwegen deine Neugier befriedigen.«
    »Ha!«, ertönte die erste Stimme. »Du schimpfst mich einen Feigling? Das sollst du mir büßen!«
    Wendel lauschte angespannt. Fingen die beiden jetzt eine Rauferei an? Der Henker aber wartete nicht auf das Ergebnis der Auseinandersetzung, sondern steckte sein Messer wieder ein, schob lautlos die Tür auf und führte ihn in einen finsteren Winkel neben dem Tor. Mit der Hand bedeutete er ihm zu warten und verschwand wieder im Inneren.
    Eine sanfte Brise kühlte Wendels schweißnasse Stirn. Irgendwo ganz in seiner Nähe knackte es. Er horchte angestrengt, doch alles blieb still. Eine Katze oder eine Ratte auf nächtlicher Jagd, dachte er erleichtert und stieß leise die Luft aus, die er vor Schreck angehalten hatte.
***
    Dietrich Vulpes trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Seine Blase drückte, doch er wollte seinen Beobachtungsposten noch nicht aufgeben. Gerne hätte er sich gleich an Ort und Stelle erleichtert, doch er zog es vor, dies ein paar Hauseingänge weiter die Straße hinunter zu tun, um nicht für den Rest der Nacht in seiner eigenen Seiche stehen zu müssen. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er das Schelkopfstor. Nichts tat sich. Die Wärter schienen immer noch in ihr Würfelspiel vertieft, der Henker war in den Tiefen des Kerkers verschwunden. Jetzt oder nie!
    Dietrich huschte in einen schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern und atmete auf, als endlich der Druck auf seiner Blase nachließ. Eine Katze sprang erschrocken auf die nächste Mauer und fauchte ihn böse an. Dietrich feixte, während er seine Beinlinge wieder zuknöpfte.
    Er schlich zurück zu seinem Posten, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Henker aus dem Tor trat. Er war fast nicht zu sehen, doch Dietrich erkannte an der Statur, dass es Melchior sein musste. Aufmerksam beobachtete er, wie der Henker an der nächsten Hausecke in einer Nische verschwand. Jetzt war er nicht mehr zu sehen, doch Dietrich hörte, wie sich schleppende Schritte entfernten, geradeso, als trüge der Henker eine schwere Last mit sich. Argwöhnisch lauschte Dietrich. Einen Moment lang überlegte er, ob er Melchior folgen sollte, um herauszufinden, warum dieser so beschwerlich vorwärtskam. Doch dann verwarf er den Gedanken. Sein Auftrag lautete, den Karcher aus Reutlingen im Auge zu behalten, und der hockte unten im Kerker.
***
    Melisande straffte sich, entspannte ihre Gesichtszüge und riss die Tür zur Wachstube auf. Die Wächter fuhren herum, beruhigten sich aber sofort, als sie sahen, wer da über die Schwelle trat. Aus den Tiefen ihres Umhangs zog sie den Schlüssel und warf ihn auf den Tisch. Die Büttel verfolgten jede Bewegung und nickten zufrieden, als Melisande sich höflich verbeugte. Leise schloss sie die Tür hinter sich und wünschte den beiden ein mildes Urteil, wenn ihnen für ihre Nachlässigkeit der Prozess gemacht wurde.
    Sie trat auf die Straße. Hoffentlich hatte der Karcher sich still verhalten! Alles war ruhig, so ruhig, als würde die ganze Stadt den Atem anhalten. Sie huschte zu Wendel in die Nische, er legte seinen Arm um ihre Schulter, und gemeinsam gingen sie los.
    Einmal mussten sie dem Nachtwächter in eine dunkle Gasse ausweichen, einmal einen streunenden Köter verscheuchen, der ihnen winselnd folgte. Dann endlich schälten sich die Umrisse des Oberen Tores aus dem Grau des anbrechenden Tages. Melisande unterdrückte einen erleichterten Seufzer. Sie hatte damit gerechnet, dass die Flucht mit dem Karcher nicht leicht sein würde, aber dass sie ein solcher Kreuzweg erwartete, hatte sie nicht vermutet. Obwohl sie vorsichtig gewesen war, hatte sie ihm wohl mehr Fußknochen gebrochen, als sie gedacht hatte. Immer wieder hatte Wendel verschnaufen müssen, weil er sonst vor Erschöpfung und Schmerz zusammengebrochen wäre. Dadurch hatten sie viel Zeit verloren. Rote und dunkelblaue Linien durchbrachen bereits das Grau am Horizont, und noch waren sie nicht aus der Stadt hinaus.
    Melisande hielt bei einer Linde, die im Winter bei einem Sturm einen mächtigen, tief hängenden Ast verloren hatte. Dort, wo der Ast gewesen war, gähnte ein Loch, eine

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