Henkerin
sollte ihm der Prozess gemacht werden. Er hat sich davongemacht, um seiner gerechten Strafe zu entgehen. Seine Flucht bestätigt, dass er tatsächlich schuld an ihrem Tod ist. Der Reutlinger stammt aus einer reichen Weinhändlerfamilie. Bestimmt hat er Melchior ein hübsches Sümmchen dafür versprochen, dass er ihn sicher aus der Stadt schafft. In seinem Zustand hätte er nie allein fliehen können.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen.
»Diese durchtriebene Schlange«, flüsterte Langkoop schließlich. »Dann hat er es absichtlich so eingerichtet, dass der Reutlinger bei der Folter immer sofort das Bewusstsein verloren hat. Er musste ihn ja einigermaßen heil und bei Kräften halten, sonst hätte er ihn nicht aus der Stadt schaffen können.«
»Wir müssen die beiden sofort suchen lassen«, bellte von Türkheim. »Weit können sie noch nicht sein – ein Hänfling von einem Henker und ein Weinhändler, der gerade zwei peinliche Befragungen durchstehen musste.«
»Ich veranlasse, dass Suchtrupps losgeschickt werden«, erklärte Johann Remser. Seine Gesichtsfarbe war inzwischen wieder fast normal. »Und ich werde den Nachtwächter und die Wachen an den Stadttoren befragen. Irgendjemand muss die beiden schließlich hinausgelassen haben.« Entschlossen wandte er sich an die Büttel. »Ihr beide durchsucht das Haus, und zwar gründlich. Was euch merkwürdig vorkommt, berichtet ihr mir. Verstanden?«
Die beiden nickten betreten und warfen ängstliche Blicke ins Innere des Hauses.
»Und danach treibt ihr die Henkersknechte auf und bringt sie zum Schelkopfstor«, fuhr Remser ungerührt fort. »Auch sie müssen befragt werden. Und zwar nicht minder peinlich als der Karcher aus Reutlingen.«
***
Inzwischen war es fast Mittag. Melisande kam immer langsamer voran, weil sie sich ständig im Gebüsch links und rechts der Straße verstecken musste. Zudem schmerzten ihre Füße von dem ungewohnt langen Marsch, und die Müdigkeit der durchwachten Nacht lastete von Stunde zu Stunde schwerer auf ihr. Am liebsten hätte sie sich unter dem nächsten dichten Busch niedergelegt und ausgeruht, doch sie hatte kaum zwei Meilen zurückgelegt und war noch viel zu nah an der Stadt, die sie beim Morgengrauen in aller Heimlichkeit verlassen hatte. Die Reichsfeste Plochingen lag hinter ihr, und vor ihr waren bereits die Umrisse von Wendlingen zu erkennen. Doch da der Neckar hier einen weiten Bogen schlug, lag Esslingen, wie der Vogel flog, wohl kaum mehr als eine Meile hinter ihr.
Melisandes Gedanken wanderten immer wieder zu der Stadt, in der sie aufgewachsen war und die sie vielleicht nie wiedersehen würde. Mit jedem Schritt, den sie tat, wurde das Gefühl der Einsamkeit drückender, die Angst vor der ungewissen Zukunft größer. Auch wenn sie in den letzten Jahren der von allen geächtete Henker gewesen war, so hatte sie doch in der Gemeinschaft ihren festen Platz gehabt. Esslingen war nicht nur ihre Heimat, sondern auch der einzige Ort, den sie kannte. Als sie sich das letzte Mal so weit von der Dionyskirche entfernt hatte, war sie gemeinsam mit ihrer Familie auf jener Hochzeit gewesen, auf jener Reise, die in dem furchtbaren Blutbad in der Schlucht geendet hatte. Damals waren sie auf dem Heimweg nicht am Neckar entlang, sondern nach der Furt an der Aichmündung auf dem kürzesten Weg in Richtung Esslingen gereist, um die weite Strecke an einem Tag bewältigen zu können. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ihr Vater an jenem Morgen entschieden hätte, auf der großen Landstraße zu bleiben und in Wendlingen zu nächtigen. Doch es war müßig, darüber nachzudenken.
Melisande schreckte hoch, als von beiden Enden der Straße Geräusche zu hören waren. Von Esslingen her näherte sich eine Staubwolke, offenbar eine Gruppe Reiter, während vor ihr ein Zug mit schwer beladenen Wagen auftauchte, Kaufleute, wie es aussah. Rasch blickte Melisande nach rechts und links. Nirgends bot sich ein gutes Versteck, lediglich ein Schlehdorngebüsch am Neckarufer versprach ein wenig Deckung. Sie hastete die Böschung hinunter. Das Schlagen der Hufe dröhnte in ihren Ohren. Sicherlich hatten die Reiter aus Esslingen sie längst gesehen.
Da die Büsche bis ans Wasser standen, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich ins Innere des Dickichtes zu kämpfen. Sie achtete kaum darauf, wie Zweige und Dornen ihr zum wiederholten Mal die nackte Haut aufkratzten, legte sich so flach auf den feuchten Erdboden, wie es in dem engen Versteck möglich
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