Henkerin
sein.«
»Unangenehm?« Sempach schlug mit der Faust auf den Tisch. »Unangenehm? Eine Schande ist das! Und zwar nicht nur für den Schultheiß und den Rat, sondern für jeden aufrechten Esslinger Bürger. Seht Ihr das nicht auch so, werter Meister Henrich?«
»Das ist wahr gesprochen«, stimmte Henrich mit undurchschaubarer Miene zu. »Wir sollten in Zukunft unseren Henker sorgfältiger auswählen und besser kontrollieren. Das steht außer Frage. Und die Bürger, zu denen ich mich selbstverständlich auch zähle, sollten umsichtiger sein, damit so etwas nie wieder passieren kann. Doch kenne ich noch immer nicht den Grund Eures Besuchs.«
»Wisst Ihr etwas über das Verschwinden des Henkers?« Sempach beugte sich vor, fest entschlossen, sich keine Regung im Antlitz seines Gegenübers entgehen zu lassen, kein Zwinkern, kein noch so winziges Zucken.
»Nein«, antwortete Henrich, offenbar vollkommen gleichgültig. »Ich weiß nichts über das Verschwinden des Henkers. Wüsste ich etwas, so seid versichert, wäre der Henker nicht entflohen. Oder denkt Ihr da anders?« Er zog die Augenbrauen hoch.
Dieser Henrich war wirklich glitschig wie ein Fisch, aber Sempach war nicht gewillt, sich das Heft aus der Hand nehmen zu lassen. Er hob den Humpen, trank, stellte ihn zurück und grinste. »Ich dachte, Ihr wüsstet vielleicht etwas, weil Ihr näher mit ihm bekannt seid. Weil Ihr seinen Ziehvater gelegentlich in Eurem Haus empfangen habt.«
Zu Sempachs Überraschung lachte Meister Henrich laut auf. »Daher weht der Wind? Ihr habt davon gehört, dass Meister Raimund mein Bein verarztet hat? Das ist wahrlich kein Geheimnis.« Der Brauer stand auf, nestelte an seinem Gewand herum und rollte seinen Beinling herunter, bis der nackte Schenkel zu sehen war. Eine hässliche Narbe wand sich das Schienbein entlang. »Seht Ihr das, Sempach? Ich wäre jämmerlich krepiert, wenn Meister Raimund nicht gewesen wäre. Der Chirurgicus hätte mich zu Tode verarztet, wie schon manch anderen hier in der Stadt. Raimund Magnus, der Henker, war ein begnadeter Heiler. Und nicht nur ich habe ihm das Leben zu verdanken.«
Er trat zurück hinter den Tisch, ließ sich in seinen Stuhl fallen und knöpfte den Beinling wieder an den Gürtel. »Wenn Ihr jeden der Beihilfe verdächtigt, der sich von Meister Raimund oder seinem Neffen Melchior hat helfen lassen, könnt Ihr die halbe Stadt ins Verlies sperren. Ihr seid auf dem Holzweg, Ratsherr.«
Sempach kniff die Augen zusammen. Was das betraf, musste er dem Braumeister widerwillig beipflichten. Es war an der Zeit, seinen letzten Trumpf auszuspielen. »Dann wisst Ihr also auch nichts von einer Ketzerbibel?«
»Ketzerbibel?« Meister Henrich beugte sich vor und runzelte die Stirn, doch Sempach hatte das verräterische Zucken seiner Augen gesehen.
»Die Heilige Schrift in der Sprache des Volkes. Ihr wisst, dass der Besitz von Bibelübersetzungen verboten ist?«
»Natürlich weiß ich das, und ich wäre verrückt, so etwas in meinem Haus zu dulden, würde diese Todsünde mich doch mit Sicherheit am Tag des Jüngsten Gerichts dem Teufel in die Arme treiben. Doch was hat das mit dem Verschwinden des Henkers zu tun?«
»In seinem Haus wurde ein Bogen Pergament gefunden. Teil einer Ketzerbibel. Vermisst Ihr vielleicht einen solchen Bogen?«
Meister Henrich lehnte sich zurück. Von dem Schrecken, den Sempach kurz zuvor in seinem Gesicht hatte aufblitzen sehen, war nichts mehr zu bemerken. Er lächelte. »Wie ich schon sagte. So etwas befindet sich nicht in meinem Besitz. Ihr wollt natürlich herausfinden, woher dieses Pergament stammt. Leider kann ich Euch dabei nicht behilflich sein. Habt Ihr vielleicht ein Anliegen, bei dem ich Euch nützlich sein kann? Wenn nicht ...« Er erhob sich.
»Nein, nichts weiter im Moment. Wie unhöflich von mir, Euch so lange von Euren Geschäften abzuhalten!« Sempach griff zum Bierkrug und trank das köstliche Gebräu in einem Zug aus. Meister Henrich – so viel stand fest – hatte irgendwo in diesem prächtigen Wohnturm weitere Pergamentbögen mit der verbotenen Übersetzung versteckt. Und wenn nicht in diesen Mauern, dann an einem anderen Ort. Eine Tatsache, die sich in bare Münze umwandeln ließ. Er wusste noch nicht, wie er sich den Braumeister zunutze machen konnte, doch ihm würde etwas einfallen. Allerdings musste er behutsam vorgehen, musste erst ein wenig Gras über die Sache wachsen lassen. Nun, er hatte Zeit. Unwillkürlich rieb er sich die Hände, bevor er
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