Henkerin
Mann zu. »Grüß Gott, Herr. Verzeiht mir die Störung. Wisst Ihr, ob es noch weit ist bis zum Hof des Paulus Weigelin?«
Der Mann hob den Kopf und musterte sie von oben bis unten. »Du bist nicht von hier«, stellte er fest. Es klang wie eine Drohung.
Melisande rang sich ein Lächeln ab. »Da habt Ihr vollkommen recht. Ich bin auf dem Weg zum Hof des Paulus Weigelin«, versuchte sie es erneut, diesmal mit erhobener Stimme. Vielleicht war der Alte schwerhörig und hatte ihre Frage nicht verstanden. »Kennt Ihr den Weg dorthin?«
Der Bauer begaffte sie immer noch argwöhnisch. »Zum Weigelin-Hof willst du?«
»Ja.« Melisande unterdrückte den Drang davonzulaufen. Sie hatte in den letzten Jahren so wenig gesprochen, dass ihr der Klang ihrer Stimme fremd vorkam. Fremd und gefährlich.
Der Bauer zuckte mit den Schultern. »Ganz wie du meinst.« Er drehte sich weg, deutete mit dem Arm zum Waldsaum, wo die Straße sich im Dunkel zwischen den Baumstämmen verlor. »Dort hinten zweigt ein Weg ab. Folg ihm für etwa eine halbe Meile. Er führt direkt auf den Hof.«
»Habt Dank, Gott schütze Euch.« Melisande verneigte sich und lief auf den Waldsaum zu. Wenn sie sich beeilte, konnte sie die Nacht vielleicht bereits hinter den schützenden Mauern des Fronhofs verbringen. Als sie den Abzweig erreichte, drehte sie sich noch einmal um. Der Bauer war wieder in seine Arbeit vertieft, es schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren, was die fremde Frau auf dem Fronhof wollte.
Der Weg war so zugewachsen, als sei längere Zeit kein Wagen mehr darübergerollt. Dennoch schritt Melisande zuversichtlich aus. Dass sie ihrem Ziel so nah war, beflügelte ihre Schritte.
Nach einer Weile lichtete sich der Wald, rechts und links tauchten Felder auf, doch sie schienen brachzuliegen. Bisher hatte sie angenommen, dass es aus der anderen Richtung, von Urach her, eine Straße zum Fronhof gab, die regelmäßig benutzt wurde. Nun aber beschlich Melisande ein ungutes Gefühl.
Schließlich erblickte sie das Dach eines riesigen Gebäudes. Melisande atmete auf. Das musste der Fronhof sein. Weitere Häuser tauchten auf, umgeben von einer mannshohen Mauer.
Melisande rannte nun fast. Als sie das erste Gebäude erreichte, erstarrte sie jedoch. Das Dach, das aus der Ferne so majestätisch gewirkt hatte, war eingefallen, Kletterpflanzen rankten ungebändigt über die Fassade. Ein riesiges Mühlrad ragte aus dem Wasser eines kleinen Bachlaufs auf, doch es drehte sich nicht. Ein Stück hinter der Mühle befand sich ein weiteres Gebäude, das ebenfalls verlassen aussah, dahinter die Mauer.
Melisande lief auf das hölzerne Tor zu. Beide Flügel standen offen. Auch im Hof selbst war alles still und dunkel. Keine Hühner, Ziegen oder Schweine liefen umher, keine menschliche Stimme zeugte von Leben. Nirgends brannte ein Licht.
Melisande schlich an den verlassenen Häusern vorbei, versuchte kein Geräusch zu machen, um nicht die Dämonen zu wecken, die sich womöglich hier versteckt hielten. Von vielen Gebäuden standen nur noch die Grundmauern, das Holz und das Stroh, aus dem einst Wände und Dach gefertigt gewesen waren, hatten offenbar anderweitig Verwendung gefunden. Nur die Steingebäude waren weitgehend unversehrt. In der Schmiede war die Esse umgeworfen, der Amboss fehlte. Sie betrat das Backhaus, in dem es nach frisch gebackenem Brot duftete, Hoffnung keimte auf, dass doch jemand hier lebte. Die Lederwerkstatt jedoch war ebenso verlassen wie die Schmiede.
Schließlich ging Melisande zu einem länglichen Gebäude. Sie wagte einen Blick durch die Tür und entdeckte die Überreste einer Kelter und einige verfaulte Fässer. In einer Ecke lag ein Haufen Stroh.
»Das kann doch nicht sein! Das darf doch nicht ...« Schluchzend wischte Melisande sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. Das Schreiben, das sie im Ärmel ihres Gewandes trug, hätte ihr hier wenigstens eine Zeitlang ein Zuhause verschaffen sollen, einen Ort, an dem sie ausruhen, neue Kräfte sammeln und Pläne für die Zukunft schmieden konnte. Doch selbst das bisschen Geborgenheit, das eine Stellung als Magd ihr geboten hätte, war ihr nun verwehrt.
Inzwischen war es vollkommen dunkel. Es hatte keinen Sinn, heute noch weiterzuziehen. Melisande trat auf den Strohhaufen zu. Wenigstens für diese Nacht würde der Fronhof ihr einen guten Unterschlupf bieten, denn er lag weitab der Landstraße, niemand kam zufällig hier vorbei. Die Backstube wurde wahrscheinlich einmal in der Woche von den
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