Henkerin
sich erhob. »Habt Dank für Eure Gastfreundschaft, Meister Henrich. Euer Bier ist von erlesener Qualität. Sicherlich beehre ich Euch bald wieder.«
»Ihr seid jederzeit willkommen.« Henrichs Gesicht war eine undurchdringliche Maske.
»Ich weiß«, sagte Sempach und strich sich genüsslich über seinen runden Bauch. »Ich weiß.« Er folgte seinem Gastgeber in die Eingangshalle. »Gehabt Euch wohl, Meister Henrich. Und auf bald! Auf sehr bald.«
***
Dietrich, der Fuchs, lauschte und schnüffelte in die Nacht. Der scharfe Geruch eines Bären fuhr ihm in die Nase, es knackte, und im selben Augenblick warf der Mond den gewaltigen Schatten des Tieres auf die Lichtung, auf die Dietrich gerade hatte treten wollen. Der braune Koloss drehte seinen Kopf nach beiden Seiten und hielt seine Schnauze in die Luft.
Dietrich verharrte reglos, die Hand an das Kurzschwert gelegt. Er war kein Feigling, doch der Kampf Mann gegen Bär war ein gefährliches Unterfangen. Meister Petz konnte ihn noch nicht gewittert haben, denn der Wind blies Dietrich ins Gesicht. Mit einem großen Schritt trat er auf die Lichtung und begann mit den Füßen aufzustampfen und laut zu rufen.
Der Bär fuhr herum, sah Dietrich, richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Dietrich zog sich zurück, machte aber weiter Lärm. Er hatte Glück: Der Bär verstand, ließ sich wieder auf alle viere fallen, trottete zurück in den Wald und verschwand.
Dietrich wartete, bis das Knacken der Zweige verhallt war, dann stieß er den Atem aus und löste die Finger vom Schwert. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Hand völlig verkrampft und schweißnass war. Auch auf seiner Stirn standen Schweißperlen.
Dietrich fuhr mit dem Ärmel darüber. Der Bär hatte ihn zu Tode erschreckt, doch hier draußen gab es einen, den er noch mehr fürchtete als die wilden Tiere. Vor einigen Stunden hatte er erfahren, dass Eberhard von Säckingen eine Belohnung auf seinen Kopf ausgesetzt hatte. Er hatte also gut daran getan, nach dem Missgeschick mit dem entlaufenen Mörder die Stadt zu verlassen und auf der Hut zu sein. Dietrich hatte dennoch gehofft, dass von Säckingen ihm die Gelegenheit geben würde, seinen Fehler wiedergutzumachen. Er hatte sich umgehört und erfahren, dass der Henker am Abend vor der Flucht von einem armen Bauern einen Gaul gekauft hatte. Einer der beiden Flüchtigen war also nicht zu Fuß unterwegs und vermutlich schon viel weiter von Esslingen weg, als alle annahmen.
Dietrich hatte vorgehabt, sich an seine Fersen zu heften. Ein einsamer Reiter, auf den die Beschreibung des Reutlingers zutraf, war am Tag zuvor mehrfach auf der Landstraße zwischen Wendlingen und Nürtigen gesehen worden. Das passte zu Dietrichs Vermutungen. Den Gaul hatte dieser gerissene Henker für den Gefangenen besorgt, schließlich war der peinlich befragt worden und nicht in der Lage, die Strecke nach Reutlingen zu laufen.
Dietrich hätte den Reutlinger erwischen können. Mit einem guten Pferd wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, den Mann einzuholen. Aber die Gelegenheit war vertan. Nachdem er von dem Kopfgeld erfahren hatte, hatte er es vorgezogen, so schnell wie möglich unterzutauchen. Seit dem Morgen war er auf dem Weg in Richtung Süden, nicht auf der Landstraße, sondern quer durch die Wälder. Was für ein verfluchter Mist! Nur ein paar Augenblicke hatten ausgereicht, um sein ganzes Leben zu verpfuschen. Das hatte ihm alles dieser vermaledeite Henker eingebrockt, und dafür sollte er büßen.
Angetrieben von Wut und Hass lief Dietrich weiter. Er zwängte sich durch das Dickicht, unter ihm im Tal blinkte der Neckar im Mondlicht, daneben, ein Stück oberhalb des Ufers, erstreckte sich das dunkle Band der Landstraße. Plötzlich zog es ihm die Beine unter dem Leibe weg. Eine kleine Mulde hatte sich vor ihm aufgetan, die er nicht rechtzeitig gesehen hatte.
»Verflucht!« Gerade noch gelang es Dietrich, den Sturz abzufangen. Er wollte schon weitergehen, als er stutzte. In der Mulde lag etwas, ein winziger Fetzen hell leuchtenden Stoffs. Dietrich bückte sich, hob das Stück Stoff auf und tastete den Waldboden ab. Schnüffelte. Eindeutig. Hier hatte vor nicht allzu langer Zeit jemand gelegen, ein Mensch, kein Tier.
Nachdenklich rieb Dietrich den Stoff zwischen den Fingern. Er war grob und schmutzig. Seine Farbe war im schwachen Mondlicht nicht eindeutig zu erkennen, doch Dietrich war sicher, dass es ein leuchtendes Gelb war. Gelb, die Farbe der Huren. Bei dem Gedanken an eine
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