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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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Bewohnern des nahe gelegenen Dorfes benutzt.
    Sie knotete ihr Bündel auf und zog das Henkersgewand hervor, das ihr eine weitere Nacht als Unterlage dienen würde. Der vertraute Stoff hatte etwas Tröstliches, barg die Erinnerung an Raimund. Unwillkürlich lächelte sie. Sie, Melisande Wilhelmis, eine Handvoll Mensch, hatte die mächtige Reichsstadt Esslingen gefoppt, hatte einen Todgeweihten entführt, war mit ein wenig Budenzauber durch die schwer bewachten Tore geschlüpft und allen Bluthunden und Suchtrupps entkommen. Der Uhu kreiste zwar drohend in der Luft, aber der Hase konnte sich unsichtbar machen.
    Sorgfältig breitete sie das Gewand aus und ließ sich nieder, packte das wenige Essen aus, das sie noch bei sich trug. Ein letztes Stück Brot und ein paar Himbeeren, die sie unterwegs gepflückt hatte. Sie legte sich eine Himbeere in den Mund, schloss die Augen und zerdrückte die Frucht mit ihrer Zunge. Erinnerungen an glückliche Sommertage stürzten auf sie ein: wie sie mit Rudger im Wald gespielt hatte, die Dämme, die sie in einem der zahlreichen Bäche gebaut hatten, die Finger eiskalt vom quellfrischen Wasser, die Arme gerötet von der Sonne. Solange es ging, behielt sie die Himbeere auf der Zunge, dann schluckte sie, und die Bilder zerstoben.
    Melisande nahm einen tiefen Schluck aus dem Schlauch, um die Tränen herunterzuspülen, die schon wieder in ihren Augen brannten. Sie ärgerte sich über ihre Weinerlichkeit. Ein kühles Bier oder ein kräftig gewürzter Wein, das wäre jetzt die richtige Medizin, um den Schmerz und den Kummer in seine Schranken zu verweisen. Doch in dem halb verfallenen Kelterhaus war nichts mehr übrig außer dem schwachen Geruch nach gegorenem Traubensaft.
    Die nächste Himbeere landete auf ihrer Zunge, löste weitere süße Erinnerungen aus, die nächste und die nächste. Viel zu bald war keine Frucht mehr übrig, und mit der Nacht kehrten auch die Traurigkeit und die Einsamkeit zurück in die Scheune. Nur der Gedanke an den Karcher aus Reutlingen tröstete Melisande: Sie hatte einen Unschuldigen gerettet, war zum Werkzeug Gottes geworden. Alles würde gut werden.
***
    Dietrich erreichte die Anhöhe und blickte sich suchend nach allen Seiten um. Er hatte Glück, auch in dieser Nacht trübte keine Wolke das klare Licht der Sterne und des Mondes. Auf Schlaf konnte er gut verzichten. Er würde noch genug ausruhen können, wenn er den Esslingern den Henker übergeben und dafür die sicherlich reichliche Belohnung eingestrichen hatte. Er spürte, dass er seiner Beute dicht auf den Fersen war. Es war nicht schwer gewesen, den Spuren zu folgen. Ganz in der Nähe der Mulde, die dem Henker offenbar als Nachtlager gedient hatte, hatte er neben einem Bachlauf Fußabdrücke im Schlamm gefunden, die so unverkennbar waren, dass es ein Leichtes gewesen war, sich ihre Besonderheiten einzuprägen: ein Loch in der linken und ein fehlendes Stück an der rechten Sohle. Außerdem hatte aus unerfindlichen Gründen ein süßlicher Duft in der Luft gehangen, sowohl in der Mulde als auch an dem Bach, ein Duft nach Rosen. Auch wenn Dietrich sich nicht erklären konnte, weshalb ein Henker nach Rosen roch, war er sicher, dass der Duft und die Fußabdrücke ihn zu Melchior führen würden.
    Noch einmal ließ Dietrich den Blick schweifen, doch die Konturen verschwammen, seine Augen brannten. Vielleicht sollte er ein paar Stunden schlafen. Am Horizont war eine graue Wand zu erkennen, dort türmten sich Wolken auf. Das Wetter war im Begriff umzuschlagen, aber der Regen, der die Spuren des Henkers wegwaschen würde, würde hoffentlich noch ein Weilchen auf sich warten lassen. Vor der Wolkenwand erhob sich etwas anderes in den Himmel. Zuerst hielt Dietrich es für einen knorrigen Baum, doch dann bemerkte er, dass es ein Gebäude war.
    Als Dietrich näher kam, erkannte er alsbald eine Wassermühle, dahinter die Gebäude eines Gehöftes. Er hätte lieber einen großen Bogen um die Ansiedlung geschlagen, doch der Henker war offenbar genau diesen Weg entlanggelaufen, und er wollte die Fährte auf keinen Fall verlieren.
    Erstaunt stellte er fest, dass das Hoftor nicht verschlossen war. Die Gebäude sahen verlassen aus, viele waren verfallen. Dietrich brummte zufrieden. Ein ideales Plätzchen für die Nacht. Langsam ließ er die Augen über die Überreste von Häusern, Stallungen und Werkstätten schweifen. An einem Haus, das noch recht solide und unversehrt aussah, blieb sein Blick hängen. Hier würde er es sich

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