Henkerin
mich allein. Ich muss nachdenken.«
Sempach neigte den Kopf, wandte sich um, verließ das Schwörhaus und trat auf die Straße. Zufrieden rieb er sich die Hände. Acht Wochen. Das war mehr als genug Zeit, Meister Henrich die Schlinge um den Hals zu legen und diesen Hundsfott von einem Henker ausfindig zu machen.
***
Sie hatte wieder geträumt. De Bruce hatte ihr ein Messer an den Hals gesetzt und gedroht, ihr die Kehle aufzuschlitzen. Das Gefühl war so echt, dass Melisande nicht wagte, sich zu bewegen. War sie wach oder nicht? Sie hielt die Augen geschlossen, zwickte sich mit der rechten Hand in den Oberschenkel. Es tat weh. Also war sie wach, doch das Gefühl, dass etwas an ihren Hals gepresst wurde, blieb.
Von draußen drang ein gleichförmiges Prasseln in das Kelterhaus, übertönt von einem kurzatmigen Schnaufen, das direkt über ihr zu schweben schien. Das war kein Traum. Das war wirklich!
Erschrocken wollte Melisande hochfahren, doch sie hielt inne, als der Schmerz stärker wurde. Sie öffnete die Augen einen Spaltbreit. Ein Schatten beugte sich über sie, der einen länglichen Gegenstand in der Hand hielt. Die fremde Gestalt roch säuerlich und atmete keuchend. Wasser tropfte aus ihrer Kleidung und ihrem Haar auf sie herab.
Melisande wurde es übel vor Angst. Doch sie zwang sich, die Augen offen zu halten und genau hinzusehen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie mehr erkennen konnte, denn die Gestalt stand zwischen ihr und der Tür und verdeckte so die einzige Lichtquelle des Raums. Die Fensterschlitze ließen kaum Helligkeit ein, sie waren winzig und mit Kletterpflanzen zugewuchert.
»Wer bist du?«, schnarrte eine raue Stimme.
Gott sei Dank, dachte Melisande, das ist nicht de Bruce und auch nicht sein Handlanger von Säckingen.
»Na los, red schon! Oder ist dir das Mundwerk zugewachsen?«
»Me-« Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie sich gar nicht überlegt hatte, unter welchem Namen sie sich als Magd auf dem Fronhof vorstellen wollte. Fieberhaft überlegt sie.
»Me- was? Komm schon, spuck’s aus, Kleine!«
»Mechthild«, sagte Melisande schnell und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, um Gott für die Eingebung zu danken. »Mechthild aus Esslingen. Ich komme auf Empfehlung der Gattin des Braumeisters Henrich, um hier als Magd zu arbeiten. Sie ist die Schwester von Paulus Weigelin. Sie hat mir ein Schreiben mitgegeben. Ich kann es Euch zeigen, wenn Ihr wollt. Ich bin keine Diebin.«
Jedes einzelne Wort tat Melisande weh, so fest drückte sich der lange Gegenstand in ihre Kehle. Jetzt, wo sie sich ein wenig an das Dämmerlicht gewöhnt hatte, erkannte sie, dass es eine Mistgabel war, deren mittlerer Zinken sich in die zarte Haut an ihrem Hals bohrte.
»Zu Paulus Weigelin willst du? Da kommst du zu spät.« Der Mann stieß ein verächtliches Lachen aus. »Woher weiß ich denn, dass deine Geschichte stimmt? Du musst gar keine Diebin sein, genauso gut kannst du eine Hure sein oder eine Hexe, mit diesem feuerroten Teufelshaar. Ständig verirrt sich irgendwelches Gesindel hier auf den Hof.«
»Ich könnte Euch das Schreiben zeigen«, röchelte Melisande. Sie bekam kaum noch Luft.
Der Mann spuckte auf den Boden dicht neben ihrem Kopf. »Das würde dir kaum etwas nutzen, kleine Metze. Ich kann das Gekrakel der vornehmen Leute nicht entziffern. Und meine Ida ebenso wenig.«
»Ihr wohnt hier auf dem Hof?« Melisande war sich mit einem Mal sicher, dass der Mann nicht gefährlich war, nur vorsichtig. Sicherlich hatte er sich schon mit jeder Menge üblem Gesindel herumschlagen müssen. Es kam darauf an, die richtigen Worte zu finden.
»Schon mein ganzes Leben, ja. Als die anderen weg sind, bin ich geblieben. Es ist kein einfaches Leben, aber es ist besser, als in die Fremde zu ziehen.«
»Warum sind die anderen fortgegangen?«
Er antwortete nicht.
Melisande röchelte wieder, und es wirkte. Der Mann hob die Gabel an, doch die Zinken schwebten immer noch bedrohlich über ihrem Hals. »Bitte, lasst mich aufstehen! Sehe ich aus, als könnte ich Euch ein Leid zufügen?«
Der Mann sah ihr in die Augen. Dann richtete er sich auf und ließ die Mistgabel sinken. »Du kannst dich erheben, Mechthild. Aber tu es bedächtig. Deine Geschichte scheint zu stimmen. Immerhin ist es wahr, dass der Herr eine Schwester in Esslingen hatte.« Er musterte sie von oben bis unten. »Bei der Heiligen Jungfrau Maria, du bist ja dürr wie ein Grashalm. Komm mit, Kind, Ida macht dir etwas zu essen, bevor du
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