Henkerin
für ein paar Stunden bequem machen.
Dietrich schlich an einer Mauer entlang, darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Immerhin war es möglich, dass er nicht der Einzige war, dem das verlassene Gehöft als Unterschlupf gelegen kam. Bestimmt hatte der Henker ebenfalls hier Halt gemacht. Dietrich konnte ihn wittern, den schwachen Duft nach Rosen, vermischt mit dem Angstschweiß eines flüchtigen Tieres. Morgen würde er ihn zu Gesicht bekommen, doch zuerst musste er neue Kräfte sammeln. Dieser Melchior mochte ein dürres Kerlchen sein, doch seine Geschicklichkeit im Umgang mit dem Schwert war weit über die Stadtgrenzen von Esslingen hinaus bekannt. Einem wie ihm sollte man lieber ausgeruht begegnen.
***
In der Nacht drehte der Wind, die Wolken stiegen auf, eine Luftströmung erfasste sie, und schon öffneten sich die Schleusen des Himmels. Es goss wie aus tausend Kübeln. Die feuchten Schwaden legten sich auf die Kuppen der Alb und krochen das Neckartal hinab bis nach Esslingen. Dort verfinsterten sie den Himmel, sodass man meinen konnte, die Sonne sei gar nicht aufgegangen.
Die Farbe des Himmels passte zu den düsteren Mienen der Ratsherren, die am großen Tisch zusammengekommen waren. Es war Samstag. Seit dem frühen Mittwochmorgen wurden der Mörder aus Reutlingen und der Henker vermisst, und noch immer gab es von beiden keine Spur. Das Volk murrte schon, ein verschwundener Henker war ein schlechtes Omen und ein Beweis dafür, dass die Obrigkeit ihre Bediensteten nicht im Griff hatte. Überall erzählte man die Geschichte einer Stadt im hohen Norden, die vom Feuer verzehrt worden war, nachdem sich der Henker auf ganz ähnliche Weise davongemacht hatte.
Johann Remser richtete sich in seinem Stuhl auf und räusperte sich vernehmlich. »Gestern Nacht ist ein Bote aus Reutlingen eingetroffen. Wendel Füger ist sicher in seiner Heimatstadt angekommen.«
Niemand zeigte große Regung, die Katastrophe war abzusehen gewesen.
»Natürlich weigert sich der Reutlinger Rat, ihn uns auszuliefern, wie es das Recht vorschreibt. Die Vorwürfe gegen den Karcher seien erlogen, er habe sich nichts zu Schulden kommen lassen. Der Bursche sei Opfer eines Komplotts, heißt es, und wir sollten lieber den wahren Mörder suchen.«
»Unverschämtheit!«, rief Gerold von Türkheim.
»Reutlingen ist eine Schande für alle Reichsstädte!«, ergänzte Waldemar Guirrili.
»Das dürfen wir uns nicht bieten lassen!«, brüllte Henner Langkoop.
Der Schultheiß erhob die Hand. »Ruhe! Ruhe, meine Herren! Das ist ja alles gut und richtig, was Ihr da vorbringt, doch es nützt uns wenig.« Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Leider haben wir kein Geständnis. Das macht es schwierig, dem Burschen den Mord nachzuweisen.«
Wieder erhoben sich laute Stimmen.
»Das ist der verfluchte Henker schuld!«
»Dieser Teufelsknecht hat uns das eingebrockt!«
Remser schlug mit dem Richterstab auf den Tisch. Ruhe kehrte ein.
»Gibt es denn keine Spur von Melchior? Nicht den kleinsten Anhaltspunkt?«, fragte Karl Schedel, der Kürschnermeister, in die Stille.
Remser schüttelte den Kopf. »Es ist, als hätte der Erdboden ihn verschluckt.«
»Er ist in die Hölle gefahren, wo er hingehört!«, entfuhr es Guirrili, wofür er von Remser einen strengen Blick kassierte.
»So ein Mann kann sich nicht dauerhaft verbergen«, sagte von Türkheim. »Er hat keine Freunde oder Verwandten in der Gegend. Er besitzt nicht viel Geld, und niemand würde einen Henker, egal, ob flüchtig oder nicht, freiwillig bei sich aufnehmen. Irgendwo muss der Bursche also stecken.«
»Ihr habt ganz recht, Türkheim«, bestätigte Konrad Sempach, der die Zeit für gekommen hielt, die Besprechung in die von ihm gewünschte Bahn zu lenken. »Zumindest wenn man davon ausgeht, dass Melchior keinen Verbündeten hat. Aber was, wenn diese Annahme falsch ist?«
Alle starrten ihn an.
Genüsslich fuhr er fort. »Irgendwo unter uns lebt ein Ketzer. Ein Mann, der die Bibel übersetzt oder doch zumindest eine solche Übersetzung in Auftrag gegeben hat. Ein Mann, der diese gotteslästerlichen Worte an den Henker weitergereicht hat.« Sempach bekreuzigte sich. »Wäre ein solcher Mensch nicht auch imstande, dem Meister Hans Unterschlupf zu gewähren? Ich sage Euch, werte Herren: Wem auch immer diese ketzerische Bibel gehört, dieser Mann weiß auch, wo der stumme Melchior zu finden ist.«
Eine Weile fiel nicht ein einziges Wort.
Johann Remser warf einen unruhigen Blick zum
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