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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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ersten Augenblick hatte sie gedacht, er sei einer von de Bruce’ Männern, der sein eigenes Spiel mit ihr treiben wollte. Aber inzwischen waren ihr Zweifel gekommen. Keiner von de Bruce’ Schergen hätte es gewagt, seinem Herrn die Beute vor der Nase wegzuschnappen und so dessen Zorn auf sich zu ziehen. Außerdem hatte der Unbekannte freundlich, ja beinahe ehrerbietig zu ihr gesprochen.
    Als er sie losließ, knickte Melisande ein wenig in den Knien ein. Schnell stützte er sie. »Wird es gehen?«, fragte er besorgt. »Seid Ihr unversehrt?«
    Sie lehnte sich an einen Baum, schloss die Augen, die wie Feuer brannten, griff sich ins Haar. Ihre Spange war verschwunden. Sie hatte sie irgendwo auf der Flucht verloren.
    »Bei mir seid Ihr sicher, Melisande Wilhelmis.« Seine warme Stimme floss wohltuend durch ihre Glieder, tröstete sie, machte ihr Mut.
    Dann fuhr sie erschrocken auf. »Ihr wisst meinen Namen?« Sie blinzelte ihn verwirrt an. Das kantige Gesicht und der fast kahle Schädel kamen ihr bekannt vor. Sie hatte ihn schon einmal gesehen. Doch wo?
    »Wer kennt Euch nicht in Esslingen? Und Ihr solltet ebenfalls wissen, wen Ihr vor Euch habt.«
    Melisande schluckte. Plötzlich wusste sie, wo sie den Mann schon gesehen hatte. An einem Platz, an dem sie nur ein einziges Mal gewesen war. Instinktiv stolperte sie ein paar Schritte rückwärts. »Nein«, flüsterte sie entsetzt.
    »Mir geht es nicht anders als Euch, Melisande. Auch mir hat Gott eine schwere Prüfung auferlegt, indem er mir Euch vor die Füße gestoßen hat.«
    »Aber, aber, Ihr seid ...« Melisande stockte.
    »Der Henker der Reichsstadt Esslingen. In der Tat. Der bin ich.«
    Melisande unterdrückte einen erneuten Angstschrei. Von allen Menschen in der Stadt war der Henker der unreinste, abgesehen vielleicht von Ketzern und Mördern. Sie wusste noch nicht einmal seinen Namen. Aber sie wusste, wo er hauste: ganz dicht an der äußeren Stadtmauer, weit weg von allen anständigen Bürgern. Der Rat der Stadt hatte ihm dort ein Haus überlassen, das Henkerhaus. Niemand sonst hätte darin wohnen können, es war verderbt und verrufen und starrte wahrscheinlich vor Schmutz und Gestank. Nicht nur, dass der Mann Betrüger auspeitschte, Dieben die Hände abschlug und arme Sünder aufknüpfte. Unter seinem Dach bereitete er aus dem Blut der Geköpften Zaubertränke, und ihre Gliedmaßen verkaufte er als Wunderheilmittel.
    Unwillkürlich schüttelte Melisande sich. Dieser Mann hatte sie angefasst. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Jetzt war auch sie unrein, entehrt und beschmutzt für alle Zeiten.
    Der Henker verschränkte die Arme. »Ihr glaubt, ich sei ein Wesen aus der Unterwelt, nicht wahr? Ja, ich habe Euch angefasst. Wenn nicht, wäret Ihr jetzt tot.«
    »Das wäre vielleicht besser«, murmelte Melisande.
    »Ach ja? Wie Ihr wünscht. Geht zurück, lasst Euch von de Bruce ebenso schlachten, wie er den Rest Eurer Familie geschlachtet hat.«
    »Vater lebt noch!«
    Der Henker senkte den Blick. »Nein. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Er ist gestorben. Wie ein Held, wahrhaftig. Er hat gekämpft, wie ich zuvor noch keinen Mann habe kämpfen sehen. Ein Dutzend Männer hat er getötet und viele verletzt. Fast hätten die Mörder aufgegeben. Ihr könnt stolz sein auf Euren Vater.«
    »Nein!« Verzweiflung und Trauer drohten Melisande hinwegzuspülen. Sie sprang auf, ballte die Fäuste und schrie aus Leibeskräften: »Nein!«
    Der Henker erbleichte. »Still, Mädchen! Oder Ihr hetzt uns de Bruce’ Männer auf den Hals.«
    Erschrocken schlug sich Melisande die Hand vor den Mund. Sie sah Vater vor sich, wie er ihr zulächelte; sie sah Mutter vor sich, wie sie ihr über das Haar streichelte; sie sah ihre Geschwister, die ihr zuwinkten und riefen, dass sie sich bald, sehr bald wiedersehen würden. Sie musste die Aufgabe annehmen, die Gott ihr gegeben hatte, auch wenn das hieß, sich mit einem Henker zu verbünden. Entschlossen heftete sie ihren Blick auf den Mann. »Wie heißt Ihr?«
    »Raimund Magnus.«
    »Seid Ihr verwandt mit Albertus Magnus?« Aber nein, das konnte ja gar nicht sein. Albertus Magnus war ein großer Gelehrter und Magier gewesen und entstammte mit Sicherheit keiner Familie von Henkern.
    »Wer immer das sein mag, ich kenne diesen Albertus Magnus nicht. Mein Vater hieß Raimund, so wie auch sein Vater vor ihm Raimund hieß. Einen Bruder hatte ich. Thomas, doch der ist lange tot. Einen Albertus gibt es in unserer Familie nicht, ich bin

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