Henkerin
die Farben seltsam blass waren und sie nur Grautöne sah.
»Blätter vom Huflattich und Blüten vom Garbenkraut. Um die zu sammeln, war ich im Wald unterwegs. Eigentlich brauche ich auch noch ein wenig Quendel. Der wächst besonders gut auf der Lichtung ...« Er biss sich auf die Unterlippe. »Wisst Ihr, wozu die Pflanzen gut sind?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Damit kann ich den Brand kurieren. Meister Henrich, der Bierbrauer, hat sich beim Holzspalten die Axt ins Bein gehauen. Wenn ich ihn nicht behandle, wird er sterben oder zumindest sein Bein verlieren.«
»Ihr ...« Melisande kniff die Augen zusammen. »Ihr behandelt Menschen? Wie ein Medicus? Ist Euch das erlaubt?«
»Was schert mich, ob es erlaubt ist? Meister Henrich hat mich angefleht. Der Wundarzt, der ihn bis jetzt versorgt hat, hat sein Geld genommen und sein Bein nur noch schlimmer gemacht. Eitern muss die Wunde, hat er gesagt. So eine Dummheit! Eiter ist ein Saft der Hölle, und wer den Eiter nicht bekämpft, der wird schneller den Teufel sehen, als er das Ave-Maria beten kann.«
Melisande bekreuzigte sich. Dann reckte sie entschlossen das Kinn. »Glaubt Ihr im Ernst, ich werde hierbleiben? Allein in diesem Loch? Ich verlange, dass Ihr mich unverzüglich zum Rat der Stadt Esslingen bringt, damit ich de Bruce anklagen kann. Er hat meine Familie ermordet.«
»Ihr führt eine kühne Rede für Euer Alter. Anklagen wollt Ihr de Bruce? Wie das? Es gibt keine Zeugen, nichts, worauf Ihr Eure Anklage stützen könnt. Für die Esslinger ist Eure Familie irgendeinem der vielen räuberischen Ritter zum Opfer gefallen, die hier ihr Unwesen treiben. So einfach ist das.«
»Ihr seid mein Zeuge.«
Raimund schüttelte bedächtig den Kopf. »Nun, ich habe nicht vor, mich unter mein eigenes Richtschwert zu legen. Würde ich gegen de Bruce Zeugnis ablegen, stünden zehn Aussagen gegen mich, und ich wäre des Todes. De Bruce ist ein Graf. Seine Macht reicht weit. Ihr müsst Euch damit abfinden, dass er davonkommen wird. Und Ihr müsst Euch damit abfinden, dass es Euch nicht mehr gibt. Ihr seid tot. Genau wie Eure Familie. Nie wieder dürft Ihr Euch auch nur in der Nähe von Esslingen aufhalten. De Bruce’ Schergen würden Euch sofort ergreifen und ihr grausames Werk an Euch beenden.«
Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Sicherlich hat de Bruce auf Euren Kopf eine hohe Belohnung ausgesetzt. Ich könnte Euch ausliefern und sie kassieren.« Er steckte die Kräuter wieder ein und beugte sich drohend über Melisande. »Das ist der beste Gedanke überhaupt. Dann bin ich Euch los.«
Melisande erstarrte. Mit ihrer Rechten tastete sie nach einem Stein. Sie war sich nicht sicher, ob der Henker es ernst meinte oder sich einen üblen Scherz erlaubte.
Bevor sie den Stein anheben und zuschlagen konnte, wandte er sich ab und ging tiefer in die Höhle hinein. »Kommt jetzt«, sagte er. »Wir haben genug gescherzt. Ich würde de Bruce nicht einmal sagen, wie das Wetter ist, wenn er mich danach fragen würde.«
Hintereinander stolperten sie durch den dämmrigen Gang. Das Licht der Fackel zuckte über die nackten Felswände, schreckte Fledermäuse auf, die verängstigt davonflatterten. Der Henker musste sich bücken, um nicht an die Decke der Höhle zu stoßen, doch Melisande konnte aufrecht gehen. Schließlich machte der Gang einen Bogen, und die Wände weiteten sich zu einer Kuppel, die wohl doppelt so hoch war wie der hochgewachsene Raimund Magnus.
Raimund entfachte mit der Fackel eine Talglampe. Schatten tanzten an den Wänden.
Melisande staunte. Ein Tisch, zwei Schemel, ein Strohlager, ein Kochtopf über einer Feuerstelle und ein Fass mit Wasser. »Ist das Wasser sauber?«
»Probiert es nur. In der Höhle gibt es eine Quelle.« Raimund schöpfte mit einer Kelle und reichte sie Melisande.
Gierig trank sie. Es schmeckte köstlich. Sie lebte. Und sie hatte einen Eid geschworen. Den Eid, de Bruce zur Strecke zu bringen. Raimund Magnus hatte recht. Sie musste vorsichtig sein, musste sorgfältig planen, und vor allem musste sie am Leben bleiben.
»Ich werde hierbleiben, bis alle glauben, ich sei tot«, entschied sie. Mit einem Ruck riss sie sich den Beutel von der Taille und hielt ihn Raimund hin. »Nehmt. Goldmünzen. Genug, damit Ihr mich versorgen könnt.«
Raimund wog den Beutel, öffnete ihn und pfiff durch die Zähne. »Ein stattliches Sümmchen. Wir werden es gut verwahren, damit Ihr es zur rechten Zeit für einen guten Zweck einsetzen könnt.«
»Ihr
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