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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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wollt es nicht?«
    »Wofür? Ich könnte eine Zeitlang angenehm davon leben. Aber was hätte ich davon? Ich müsste die Stadt verlassen und wäre doch nirgendwo ein geachteter Bürger. Wahrscheinlich würde man mich aufspüren und des Diebstahls bezichtigen. Wie sonst sollte wohl einer wie ich an so viel Geld kommen? Nein, Melisande. Mein Platz ist im Haus des Henkers in Esslingen, das hat mir Gott vor vielen Jahren klargemacht, und ich werde es nicht verlassen. Ich habe mein Auskommen, wisst Ihr, und es ist nicht einmal so schlecht. Die Menschen brauchen mich.«
    Melisande verstand diesen Mann nicht. Er setzte sein Leben aufs Spiel, um sie zu retten. Er schlug das Geld aus. »Warum habt Ihr mir geholfen?«
    »Weil Gott mich darum gebeten hat. Ich sagte schon: Er hat mir Euch vor die Füße gestoßen. Genug geredet jetzt! Ich muss los. Meister Henrich darf nicht sterben. Er ist mein Freund. Mein einziger«, fügte er bitter hinzu. »Morgen werde ich wiederkommen und Euch etwas zu essen bringen. Bis dahin müsst Ihr damit auskommen.«
    Er reichte ihr einen schmalen Beutel mit ein wenig Brot.
    »Danke, Meister Raimund. Das wird reichen. Ich habe keinen großen Hunger.«
    Der Henker wollte losgehen, aber Melisande hielt ihn zurück. »Danke. Danke für Eure Hilfe.«
    Sie streckte ihm ihre Hand hin, mit einem Lächeln griff er zu. Im flackernden Licht der Talglampe glaubte Melisande, Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen. Doch vermutlich war das eine Täuschung.
    »Kommt bloß nicht auf die Idee, die Höhle zu verlassen«, warnte er sie. »Der zweite Ausgang liegt zwar weit weg von der Schlucht, in der Ihr überfallen wurdet, in der Tat ist er nur eine halbe Meile von den Toren der Stadt Esslingen entfernt, aber de Bruce’ Häscher liegen sicherlich noch immer überall auf der Lauer.«
    Er zog seine Hand weg und verschwand in einem Gang am anderen Ende der Höhle, wo die Dunkelheit ihn verschlang. Noch lange hörte Melisande den Widerhall seiner Schritte.
    Schließlich glaubte sie, weit entfernt ein schabendes Geräusch zu vernehmen. Danach fiel die Stille über sie und hüllte sie ein. Mit der Stille kam die Erinnerung an das Schreckliche, das geschehen war, kehrten die Bilder zurück. Von der Mutter, deren Gesicht vor Schmerz verzerrt war, die ihre Hand auf die tödliche Wunde presste. Von Gertrud, deren Herz von einem Pfeil durchbohrt war. Von ihrem kleinen Bruder, den de Bruce grausam an einen Baum genagelt hatte. Und von dem blutigen Schwert, das Rudger gehört hatte, ihrem wunderbaren Bruder, der so tapfer gekämpft hatte wie der edle Ritter Gawan.
    Melisande bewegte sich lange nicht, lauschte dem Schlag ihres Herzens und dem Rauschen des Blutes in ihren Adern. Schließlich legte sie sich auf das Stroh, das frisch und sauber roch, und zog sich die Decke über die Beine. Das alles musste ein Traum sein. Ein furchtbarer Albtraum, aus dem sie bald wieder erwachen würde. Ihr Hals schmerzte, ihr Magen krampfte sich zusammen. Dann endlich flossen die Tränen.

D AS V ERSPRECHEN
    Die Nacht lag über dem Land wie ein Leichentuch. Raimund dankte Gott, dass er den Mond nicht verhüllt hatte und dass dessen Licht ihm den Weg zeigte. Er hatte Nächte erlebt, in denen man die Hand vor Augen nicht sehen konnte. In denen jeder Schritt das Todesurteil hätte bedeuten können. In den Stunden bis zum Hereinbrechen der Dunkelheit hatte er auf der Lauer gelegen und die Bewegungen von de Bruce’ Männern beobachtet. So hatte er den Wald noch nie erlebt. Gefährlich und feindlich. Das kleinste Geräusch ließ ihn zusammenzucken, immer wieder warf er sich auf den Boden oder in eine Senke.
    Natürlich hätte er im sicheren Versteck bis zur Dämmerung ausharren können, doch das hatte er nicht über sich gebracht. Was hätte er mit dem verschreckten Mädchen anfangen sollen? Er kannte sich nicht aus mit Kindern, und schon gar nicht mit reichen Mädchen. Außerdem hatte ihn plötzlich die Angst gepackt. Erst in der Höhle war ihm bewusst geworden, in welche Gefahr er sich durch sein unüberlegtes Handeln gebracht hatte. Sich mit Ottmar de Bruce anzulegen, was für ein Irrsinn! Da hätte er gleich den Teufel zum Zweikampf fordern können.
    Raimund setzte an, auf direktem Weg nach Esslingen zurückzukehren, entschied dann aber doch, im Hohlweg nach Überlebenden zu suchen. Er konnte sie nicht einfach dort liegen lassen, auch wenn Meister Henrich ebenfalls ungeduldig auf seine Hilfe wartete. Wie oft hatte er auf den Schlachtfeldern

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