Henkerin
als würde sie immer noch in dem Karren sitzen und durch eine endlose Folge riesiger Löcher ruckeln. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie de Bruce, der herumstolzierte wie ein Gockel. Sie hatte tatsächlich eine Möglichkeit, keine große, aber einen Versuch war es wert. Sein Schwert war kein Bihänder, sondern ein Kurzschwert für den Nahkampf. Das konnte sie führen. Sie hatte Mutter versprochen, ihre kleine Schwester in Sicherheit zu bringen. Sie hatte kläglich versagt. Aber sie hatte ihrer Mutter noch etwas versprochen. Sie hatte geschworen, de Bruce zu töten. Sie würde nicht noch einmal versagen. Die Gelegenheit war günstig. Wahrscheinlich würde sie ihm nie wieder so nahe kommen, wenn er unbewaffnet war. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie es sein würde. Aufspringen, losrennen, das Schwert aufheben, auf ihn zufliegen und, kurz bevor sie ihn erreichte, einen Haken schlagen. Aber rechnete er nicht genau damit? Er hatte ihre Finte ja beobachten können. Also würde sie den Haken nur antäuschen und ihm dann das Schwert in den Hals rammen. Sein Visier stand offen, er bot ihr seine Kehle dar, und seine Rüstung machte ihn schwerfällig.
»Was ist los? Bist du auch so ein Feigling wie dein Vater?« De Bruce brüllte wieder über die Lichtung hinweg. »Hast du nicht gesehen, wie er fliehen wollte? Mit seinen lächerlichen Blechsoldaten wollte er sich durchschlagen und abhauen. So seid ihr alle, ihr Wilhelmis. Feige und gierig und schwach.«
»Ihr lügt!« Melisandes Stimme zitterte.
De Bruce lachte. »Ganz wie du meinst. Dann beweis mir das Gegenteil, Melisande Wilhelmis!«
Melisande kniete sich hin und faltete ihre Hände zum Gebet. Eine unheimliche Ruhe war über sie gekommen. Was hatte sie noch zu verlieren? »Lieber Gott«, sprach sie. »Vielleicht werde ich bald bei dir sein. Und bei meiner Familie. Bitte vergib mir alle Sünden, und nimm mich bei dir auf. Ich hoffe, du verstehst, dass ich dieses Scheusal nicht leben lassen darf. Ich habe einen heiligen Eid geschworen, und den darf man nicht brechen.«
Sie küsste das Kreuz, das um ihren Hals hing, stand langsam auf und wollte losrennen. Doch sie konnte nicht. Ein Arm legte sich um ihre Hüfte, eine Hand verschloss ihr mit eisernem Griff den Mund. Ehe sie sich versah, wurde sie hochgerissen und davongetragen.
Während der Unbekannte mit ihr durch das dichte Unterholz hastete, strampelte sie verzweifelt mit den Beinen und versuchte freizukommen. Vergebens. Als wäre sie mit einem starken Seil gefesselt, zappelte sie hilflos zwei Fuß über dem Waldboden, der unter ihr vorüberflog. Äste peitschten ihr ins Gesicht, Baumstämme tauchten auf und verschwanden wieder, und alles, was sie hörte, war das Knacken der Zweige und der keuchende Atem ihres Entführers.
Schließlich gab Melisande auf. Es war sinnlos, sich gegen die unglaublichen Kräfte dieses Menschen zu wehren. Irgendwann musste der Mann stehen bleiben, und es war mit Sicherheit besser für sie, wenn sie dann nicht vollkommen erschöpft war.
Endlich wurden seine Schritte langsamer, der Mann hielt schwer atmend inne und setzte Melisande auf dem Boden ab. Seinen Griff lockerte er nicht.
»Hier müssten wir einen Moment sicher sein«, hörte Melisande ihn mehr brummen als sagen. Seine Worte tönten dunkel und rau. Die Hände, die Stimme – sie war sich sicher, dass es ein Bär von Mann sein musste, der sie davongetragen hatte wie eine Stoffpuppe, sie daran gehindert hatte, Ottmar de Bruce zu töten. Was wollte er von ihr?
»Hört gut zu!« Der Mann sah sie an. Sein Gesicht war dicht vor ihrem, die stahlblauen Augen unter den buschigen grauen Brauen blickten ernst.
Melisande deutete ein Nicken an.
»Ich muss jetzt meine Hand von Eurem Mund nehmen. Versprecht Ihr mir, nicht zu schreien?«
Melisande zuckte mit dem Kopf.
»Gut. Das deute ich als Ja.«
Langsam ließ der Druck nach, dann war ihr Mund frei. Sie atmete ein paarmal tief ein und wartete, was als Nächstes geschehen würde. Ihr Inneres schien sich auflösen zu wollen, mit Mühe rang sie ihre Angst nieder.
»Ihr seid eine wohlerzogene junge Frau. Jetzt nehme ich die andere Hand weg. Versprecht Ihr mir, nicht wegzulaufen? Gebt Ihr mir Euer Wort?«
Melisande zögerte nicht. Sie nickte. Was würde es auch nützen, sich mit diesem Kerl anzulegen? Er war hundertmal stärker als sie, und ohne Waffe war sie ihm hilflos ausgeliefert. Außerdem machte sich langsam das Gefühl in ihr breit, er könne ihr wohlgesinnt sein. Im
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