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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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in die bereitstehende Schüssel und benetzte ihr Gesicht, um wach zu werden. Das Wasser bot einen eisigen Vorgeschmack auf den Winter. Rasch schlüpfte sie in ihre Kleider und trat vor die Tür. Es roch nach feuchtem Laub und Rauch. Sie wollte ums Haus gehen, um nach der Ziege zu sehen, stockte aber, als ihr Blick auf das Mauerwerk neben der Tür fiel.
    Auf der Hauswand prangten der Schmutz und Staub vieler Jahre, an manchen Stellen bröckelte der Mörtel, doch dieser Anblick war ihr vertraut. Neu war die Schmiererei, die jemand hinzugefügt hatte: eine mannsgroße hässliche Kröte mit riesigen Glupschaugen und abstoßenden Warzen auf der Haut. Die Kröte hatte jedoch nicht die braungrüne Farbe, die der Herrgott im Himmel für sie ausgesucht hatte. Sie war leuchtend rot, als wäre sie mit Blut gemalt.
    Melisande blickte sich nach allen Seiten um, bereit, einem Angreifer entgegenzutreten. Doch niemand war zu sehen. Dabei musste der Maler in der Nähe sein, die Schmiererei war noch feucht. Außerdem hätte niemand es fertiggebracht, sie im Dunkel der Nacht so akkurat an die Wand zu pinseln. Irgendwer war hier gewesen, war ihr so nahe gewesen, dass nur die dünne Hauswand sie getrennt hatte, die Wand und eine Tür, zu der es keinen Riegel gab. Wer auch immer es gewesen war – er hätte auch ins Haus treten und sie im Schlaf erwürgen können, noch bevor sie begriffen hätte, was mit ihr geschah.
    Melisande seufzte. Sicherlich hatten sich ihre Heilkünste schon über die Grenzen von Urach hinaus herumgesprochen. Auch wenn niemand auf die Idee kam, in der heilkundigen Magd auf dem Weigelin-Hof den Henker aus Esslingen oder die verschollene Melisande Wilhelmis zu sehen, so war sie dennoch in Gefahr. Die Kröte war das Zeichen für Hexerei und Teufelswerk, und Melisande wusste nur zu gut, was die Leute über sie sagten. Wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können!
    Sie war hier nicht sicher. Nicht hier und nirgendwo sonst. Solange sie vor Ottmar de Bruce auf der Flucht war, gab es auf der ganzen Welt keinen sicheren Ort für sie. Und es gab nur einen Weg, das zu ändern.
    Melisande eilte ins Haus und holte die Waschschüssel. Mit Schwung klatschte sie den Inhalt gegen die Wand. Ein Teil der roten Farbe rann in leuchtenden Streifen hinab. Sie holte einen Lappen und begann zu wischen. Am Brunnen holte sie mehr Wasser, Eimer um Eimer, und hörte erst auf, als ihre Finger von der Kälte und dem rauen Tuch steif und wund waren. Die Kröte war nicht mehr zu erkennen, doch die rote Verfärbung wollte nicht ganz verschwinden.
    Erschöpft setzte sich Melisande auf den Brunnenrand. Sie durfte Ida und Hermann nichts davon erzählen. Das würde die beiden zu sehr beunruhigen. Aber sie durfte die guten alten Leute, die sie inzwischen wie eine Tochter behandelten, auch nicht in Gefahr bringen, ebenso wenig wie sich selbst.
    Melisande hatte gehofft, wenigstens den Winter bei Ida und Hermann verbringen zu können, um in Ruhe Pläne zu schmieden. Doch die Kröte hatte ihr klargemacht, dass dafür keine Zeit blieb. Ihre Tage auf dem Hof waren gezählt.
    Der Stoff fiel ihr ein. Gestern hatte sie der Frau des Gewandschneiders geholfen, die die Stiege hinuntergestürzt war. Dafür hatte der Gatte ihr vier Ellen dunkelgrünen Wollstoffes geschenkt, aus dem sie sich ein Kleid nähen sollte. Der Stoff war viel zu wertvoll als Lohn und außerdem zu kostbar, als dass eine Magd ihn tragen könnte. Doch der Schneider hatte nichts davon hören wollen.
    »Das Grün wird wunderbar zu deinem roten Haar aussehen«, hatte er gesagt. »Wart’s nur ab, mein Kind. Die jungen Männer werden dir zu Füßen liegen, und ehe du dich versiehst, bist du die Braut eines braven Handwerkerburschen. Du kannst doch nicht da oben bei den beiden Alten versauern!«
    Sie hatte beschämt den Kopf gesenkt und sich bedankt. Ohne es zu wollen, war ihr Adalbert in den Sinn gekommen, der Mann, dessen Braut sie so gerne geworden wäre und in dem sie sich so getäuscht hatte. Sie lenkte ihre Gedanken in eine andere Richtung, und in ihrer Vorstellung wurde aus Adalbert der Karcher aus Reutlingen. Wendel Füger. Welch seltsame Streiche einem die Einbildungskraft spielte! Sie hatte sich selbst eine Närrin gescholten und rasch auf den Heimweg gemacht.
    Der Wollstoff kam genau recht. Doch sie würde kein Kleid daraus nähen. Wenn sie floh, würden alle nach einem jungen Mädchen suchen. Also würde sie noch einmal in Männerkleider schlüpfen, um sich unsichtbar zu machen. Gleich

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