Henkerin
jemals danken?«
Wendel zog den Mann hoch. »Sei gerecht und nachsichtig zu deinen Söhnen, das ist alles, was ich mir wünsche.«
Der Huser verneigte sich tief. »Sehr wohl, Herr, und habt nochmals Dank.«
Der überschwängliche Dank war Wendel sichtlich unangenehm. Inzwischen waren von überall her andere Huser, Mägde und Knechte herbeigekommen, die den Vorfall beobachtet hatten. Jemand beschaffte ein sauberes Tuch, mit dem Melisande den Kopf des Jungen verband, der Wagen wurde wieder aufgerichtet, beladen und an seinen Platz gezogen.
Wenig später ritten Wendel, Antonius und Melisande zurück zum Füger’schen Anwesen. Der Schreck steckte allen dreien tief in den Knochen. Doch Wendel saß kerzengerade, als sie das Stadttor passierten. Etwas an seiner Haltung hatte sich verändert. Melisande ahnte, was es war: Er hatte heute seinen ureigenen Dämon besiegt.
***
Wendel wusste nicht, ob der Wein ihn so trunken machte oder die Freude. Vermutlich beides. Am Nachmittag hatte er den Jungen, dem er das Leben gerettet hatte, noch einmal zu Hause besucht. Der Chirurgicus hatte sich die Wunde angesehen, erklärt, dass sie harmlos sei, und seinen Patienten zur Ader gelassen. Der Kleine saß im Bett und erzählte jedem, der es hören wollte, von seinem großen Abenteuer. Sein älterer Bruder war bestraft worden, jedoch nicht allzu streng, denn der Vater hatte sich an Wendels Wunsch gehalten und war außerdem viel zu glücklich, dass alles glimpflich ausgegangen war. Selbst die Trauben, die vom Wagen gekippt waren, hatten sich als noch brauchbar erwiesen.
In Windeseile war der Abend gekommen. Nun saß Wendel mit Merten im Hof auf einem Haufen Holzscheite, auf dem Boden zwischen ihnen standen ein Talglicht, ein Krug Wein und zwei Becher. Er fühlte sich so gelöst und froh wie schon lange nicht mehr. Er hatte Merten von Elisabeth erzählt, seiner kleinen Schwester, deren Tod er nicht hatte verhindern können. Von seiner Panik, wann immer er irgendwo Blut fließen sah, von der unendlichen Erleichterung, die er empfand, jetzt, wo der Bann gebrochen war.
Der stille junge Mann hatte schweigend zugehört, lediglich hin und wieder mit seiner seltsam rauen Stimme eine kurze Frage gestellt. Wendel wusste nicht, warum er ausgerechnet Merten de Willms, der doch ein Fremder war, so bedingungslos vertraute. Vom ersten Augenblick an, als er ihn vor der Weinstube hatte stehen sehen, hatte er sich ihm verbunden gefühlt, gerade so, als würden sie sich schon ihr Leben lang kennen.
Eine Weile saßen sie schweigend da, lauschten den Geräuschen, die aus der Schankstube und von der Gasse her zu ihnen herüberdrangen. Als der Schankknecht in der Tür auftauchte und das große Fass bei der Theke in Wendels Blickfeld rückte, erschien plötzlich ein Bild vor seinen Augen, eine Erinnerung an den Weinkeller auf der Adlerburg, an die kleine Kammer am Ende der langen Reihe von Fässern. Ruckartig setzt er sich auf. »Mir ist gerade etwas eingefallen.«
»Was?« Merten nippte an seinem Wein.
»Der Weinkeller. Ich erinnere mich.«
Merten starrte ihn an. »Meinst du de Bruce’ Weinkeller? An was erinnerst du dich?«
»Da ist eine kleine Kammer am Ende des Kellers.« Er versuchte, das Bild in seinem Kopf so genau wie möglich zu beschreiben. »Ein Tisch steht in der Mitte, eine Fackel steckt in der Wand.«
»Bist du allein dort, oder ist jemand bei dir?«
»Ich glaube, ich bin allein. Ich bin in den Keller hinabgestiegen, weil die Tür offen stand. Es ist möglich, dass ich de Bruce suche. Oder ich bin einfach nur neugierig. Ich weiß es nicht mehr.«
»Was ist außer dem Tisch noch in der Kammer?«
»Ein Regal an der Wand. Darauf stehen Tiegel in unterschiedlichen Größen.«
»Was ist in den Tiegeln?«
»Keine Ahnung. Sie sind verschlossen.«
»Du hast nicht nachgesehen?«
»Nein.« Wendel zögerte. »Doch. Einer steht auf dem Tisch. Ein orangerotes Pulver ist darin.«
Auf einmal wurde es Wendel heiß. Jesus, Maria und Josef. Er wusste, was das für ein Pulver war! »Ich weiß, was es ist!« Er schrie fast.
»Was denn?«
»Goldglätte.« Wendel schlug die Faust klatschend in die Handfläche.
»Goldglätte? Das Farbpigment?«, fragte Merten verdutzt. »Warum bewahrt de Bruce Farben in seinem Weinkeller auf? Das ergibt doch keinen Sinn.«
Wendel starrte in seinen Weinbecher. Für einen Schreiber mochte das keinen Sinn ergeben, für einen Huser schon. »Oh doch, mein lieber Merten, das ergibt sehr wohl einen Sinn. Und es erklärt
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