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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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mitzuziehen und die Welt zu entdecken. An Wendels Seite durch die Felder und Weinberge zu reiten war, als hätte man ihr ein Stück von ihrem alten Leben zurückgegeben.
    Ein gellender Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Er kam aus der Richtung der beiden Jungen. Melisande lugte um den Wagen herum, um besser sehen zu können. Der jüngere Bub blutete heftig an der Stirn, der ältere hielt noch den Stein in der Hand, mit dem er seinen Bruder geschlagen hatte. Die Wunde war vermutlich gar nicht tief, doch sie blutete stark. Wendel stand wie vom Donner gerührt vor dem Kleinen, sein Gesicht war weiß wie eine frisch gekälkte Wand.
    Wieder ertönte ein Schrei. Diesmal war es der Vater der Jungen. Melisande sah in die andere Richtung. Der Wagen war in Bewegung geraten, hatte ihn umgeworfen und überrollt.
    Der Stein, dachte Melisande entsetzt. Der Stein, den der Junge eben hinuntergeschleppt hat! Er hat vor dem Rad gelegen, um den Wagen zu sichern!
    Der Wagen nahm rasch Fahrt auf. Der Huser krümmte sich stöhnend am Boden. Melisande und Antonius sprangen von ihren Pferden und rannten los. Melisande betete, der Wagen möge umkippen, bevor er Wendel und die Jungen erreichte. Doch obwohl er rumpelte und wankte, hielt er unermüdlich auf sein Ziel zu. Der ältere Junge hatte inzwischen die Gefahr erkannt und sich zwischen die Reben am Wegesrand geworfen. »Komm her!«, brüllte er seinem Bruder zu. »Mach schon! Geschwind!«
    Doch der Kleine hörte ihn gar nicht. Er stand da und weinte, während das Blut aus der Wunde über sein dreckverschmiertes Gesicht strömte.
    Trotz des Wagens, der ihr teilweise die Sicht versperrte, und trotz der Staubwolke, die dieser aufwirbelte, sah Melisande Wendels Gesicht. Es war angespannt, sein Blick wirkte leer, als wären seine Gedanken ganz woanders. Seine Lider flatterten. Er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.
    »Nicht jetzt, Wendel!«, dachte sie verzweifelt. »Bitte, nicht jetzt, halte durch!«
    Melisande hatte den Wagen erreicht, doch es gab keine Möglichkeit, an ihm vorbeizukommen. Entschlossen krallte sie ihre Hände in die hölzerne Umrandung und versuchte, seine Fahrt zu verlangsamen. Vergeblich.
    Antonius packte ebenfalls zu. »Meister Füger!«, brüllte er. »Ihr müsst zur Seite springen! Schnell!« Seine Stimme überschlug sich, aber Wendel blieb wie zur Salzsäule erstarrt stehen, wo er war.
    Der Wagen war nur noch wenige Schritte von Wendel und dem Jungen entfernt. Da endlich ging ein Ruck durch Wendel, sein starrer, abwesender Blick wurde klar. Er sprang zu dem Kind hin, zerrte es zur Seite und presste sich mit ihm gegen den Hang. Schützend stand er vor ihm, während der Wagen eine Handbreit neben ihnen vorbeiraste und schließlich nach wenigen Schritten die Böschung hinunterkippte.
    Keuchend erreichten Melisande und Antonius die Unglücksstelle.
    »Alles in Ordnung, Herr?«, fragte Antonius besorgt.
    Wendel drehte sich um. Er war immer noch kalkweiß und zitterte am ganzen Körper, doch in seinen Augen schimmerte Erleichterung. »Der Junge hat eine Verletzung am Kopf«, sagte er mit einem leisen Lächeln. »Ich glaube allerdings, es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«
    Antonius und Wendel tauschten einen langen Blick. »Ihr habt ihm das Leben gerettet, Herr«, sagte Antonius schließlich und neigte leicht den Kopf.
    Aus Wendels Lächeln wurde ein zufriedenes Grinsen. »Das habe ich in der Tat, wenn auch nur um Haaresbreite. Das war wirklich knapp.«
    Der ältere Bruder kroch zwischen den Reben hervor. »Ich wollte das nicht«, schluchzte er.
    Im gleichen Moment humpelte von oben der Huser herbei.
    »Bist du verletzt?«, fragte Wendel.
    »Nicht der Rede wert«, rief er. »Nur ein paar Kratzer. Hauptsache, meinen Jungen ist nichts passiert.« Er schloss die beiden in seine Arme. Blut aus der Kopfwunde des Kleinen tropfte auf seine Cotte. »Ihr Racker, ich sollte euch das Hinterteil versohlen.« Dann begann auch er zu weinen, und Melisande bezweifelte, dass er seine Drohung wahr machen würde.
    Der Huser fasste sich, wischte sich die Freudentränen vom Gesicht und musterte seinen älteren Sohn.
    »Ich wollte das nicht«, stammelte der. »Bitte, Vater, ich habe doch nicht gewusst ...«
    »Darüber sprechen wir später.« Sein Vater schaute ihn streng an. »Jetzt gehen wir zuerst in die Kirche und danken Gott, dem Herrn, dass er euch dumme Buben noch nicht zu sich befohlen hat.« Er wandte sich zu Wendel und sank auf die Knie. »Herr, wie soll ich Euch das

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