Henkerin
der alte Erhard Füger hatte sein Misstrauen überwunden, und Engellin, die wunderschöne Braut, war zum Glück nicht wieder aufgetaucht.
Wendel wich ihr kaum von der Seite. Er hatte ihr von seinen Erlebnissen im Esslinger Kerker berichtet, auch von dem seltsamen Henker, der ihm das Leben gerettet hatte. Er hatte erklärt, dass er Ottmar de Bruce verdächtige, das Komplott eingefädelt zu haben, das ihn beinahe an den Galgen gebracht hätte. Und dass dieser ihm vermutlich immer noch nach dem Leben trachte, wahrscheinlich weil er in der Nacht der Brautschau auf der Adlerburg etwas gesehen hatte, das er nicht hätte sehen dürfen. Allerdings erinnere er sich nur bruchstückhaft, weshalb er nichts gegen den Grafen unternehmen könne. Melisande hatte aufmerksam gelauscht und das Gespräch geschickt immer wieder auf die Ereignisse auf der Adlerburg gelenkt, aber Wendels Erinnerung kehrte nicht zurück.
Sie ritten durch die Obere Vorstadt in Richtung der Achalm, wo Wendel sich vom Fortschreiten der Weinlese auf der Sommerhalde überzeugen wollte. Als es an den Aufstieg ging, auf einem schmalen Weg, der rechts und links von Reben gesäumt war, rief Wendel: »Ist es nicht wunderschön hier? Habt Ihr in Augsburg auch solche prachtvollen Berge, mein Freund?«
Woher sollte Melisande das wissen? Sie war noch nie im Leben dort gewesen. Aber sie wusste, dass Karcher oft weite Reisen unternahmen, also konnte es sein, dass Wendel zumindest aus Erzählungen das eine oder andere über Augsburg gehört hatte. »Ich schwöre, ich habe nie einen so eindrucksvollen Berg gesehen«, versicherte sie.
Wendel lachte auf. »Ihr seid ein wahrhaft höflicher Gast, mein werter Merten, und Eure Zunge ist ebenso flink wie gescheit. Ihr gefallt mir.«
»Das hat man mir in letzter Zeit des Öfteren gesagt.« Melisande deutete eine Verneigung an. »Ihr, geschätzter Wendel, habt es mir bereits unzählige Male versichert.«
»Dann muss es wohl stimmen.« Er grinste und zeigte nach vorn. »Da ist sie. Das ist die Sommerhalde. Unser bester Weinberg.« Er senkte die Stimme. »Von hier kommt auch der Tropfen, den ich an den ehrwürdigen Graf Ulrich und an unseren gemeinsamen Freund Graf Ottmar de Bruce liefere.«
Melisande horchte auf. »Die beiden beziehen den gleichen Wein von Euch?«
»Ja, das tun sie«, antwortete Wendel. »Es ist ja unser bester.«
Melisande starrte vor sich hin, während die Stute, die Wendel ihr hatte satteln lassen, sie langsam den steilen Berg hinauftrug.
Sie erreichten einen großen Leiterwagen, der schon zur Hälfte mit Körben voller frisch geschnittener tiefroter Trauben beladen war. Der Ochse war ausgespannt und zupfte an dem Gras in der Mitte der Fahrspur. Ein Huser stand hinter dem Wagen, zwei kleine Jungen, die etwa drei und sechs Jahre alt waren, hockten ein Stück unterhalb auf einem zweiten Weg, der sich von Eningen her den Berg hinaufwand, und legten mit weißen Kieselsteinen Muster in den Staub.
Wendel stieß einen erschrockenen Laut aus, als er sie erblickte, eine Art Stöhnen. Überrascht sah Melisande zu ihm hinüber, doch er fasste sich schnell wieder und lächelte sie an. »Geschafft«, sagte er. »Wir sind da.« Er saß ab und schlenderte um den Wagen herum zu dem Huser.
Melisande betrachtete die weite Landschaft. Der Morgennebel hatte sich verflüchtigt, das Sonnenlicht ließ die Farben des Herbstes leuchten. Überall auf den Hängen waren Männer und Frauen mit auf den Rücken geschnallten Körben bei der Arbeit. Unter ihnen im Tal lag Reutlingen, die Türme der mächtigen Stadtmauer und der fast fertige Turm der Marienkirche ragten in den Himmel. Aus den Augenwinkeln sah Melisande, wie der ältere der beiden Jungen den Weg hinaufkam und wenig später mit einem dicken Steinbrocken zu seinem kleinen Bruder zurückkehrte. Irgendetwas kam ihr seltsam vor, doch Wendel sprach zu ihr, und sie vergaß den Jungen.
»Seid Ihr bereit, noch hinüber zum Georgenberg zu reiten, mein lieber Merten?«, fragte er.
»Gern.«
»Gut. Ich verabschiede mich nur noch von den zwei kleinen Husern hier.« Wendel zwinkerte und lief den Weg hinunter auf die Jungen zu.
»Recht so.« Melisande tätschelte ihrer Stute den Hals. Der Ausflug tat ihr unendlich gut. Als kleines Mädchen war es das Schönste für sie gewesen, mit ihrem Vater auszureiten. Unterwegs hatte er ihr von seinen Reisen in ferne Städte erzählt, sie hatte sich nicht ein Wort entgehen lassen und davon geträumt, selbst einmal mit einem Kaufmannszug
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