Henkerin
als versuchten sie, von dem Pergament zu fliehen. Ihre Aufgabe war gewesen, eine Rechnung zu kopieren, Wendel hatte ihr erklärt, worauf es ankam. Gut, dass er sie dann allein gelassen hatte. So hatte sie in aller Ruhe herumprobieren können, ohne dass er merkte, dass ihr die Arbeit nicht gerade flüssig von der Hand ging. Das erste Dokument war geschafft, ab jetzt würde es leichter werden.
Erhard Füger, Wendels Vater, hatte nur zögernd eingewilligt, den fremden Schreiber zu beschäftigen. Melisande hatte ihm das Empfehlungsschreiben des Augsburger Rates gezeigt, doch selbst das hatte ihn nicht überzeugt.
»Ihr wart einige Jahre lang für die Stadt Augsburg tätig?«, hatte er argwöhnisch gefragt. »Darf man fragen, wie viele Sommer Ihr zählt, Meister de Willms? Ihr seht keinen Tag älter aus als sechzehn.«
»Ihr täuscht Euch, Meister Füger«, hatte sie geantwortet. »Ich bin in diesem Winter achtzehn geworden. Und mit dreizehn bin ich in meinem Handwerk in die Lehre gegangen. Als mein Meister plötzlich krank wurde, übernahm ich seine Geschäfte. Der Rat der Stadt war immer sehr zufrieden mit meiner Arbeit.« Nicht ein Wort von dem, was sie gesagt hatte, war gelogen, lediglich das Handwerk, das sie übernommen hatte, war ein anderes gewesen.
Erhard Füger hatte den Kopf geneigt und nachgedacht, sie aber schließlich beauftragt, auf Probe einige Dokumente aufzusetzen.
»Euer Vater ist sehr streng«, hatte sie zu Wendel gesagt, als sie wieder allein waren.
»Er hat ein gutes Herz«, hatte Wendel erwidert. »Und er beschützt seine Familie mit allem, was ihm zur Verfügung steht. Im Augenblick prüft er besonders genau, wen er in meine Nähe lässt. Im Sommer hätte er mich beinahe verloren, der Schreck sitzt immer noch tief.«
Melisande hatte nicht nachgefragt, was Wendel als besonders feines Taktgefühl ausgelegt hatte. »Danke, dass Ihr nicht in mich dringt, um zu erfahren, was vorgefallen ist. Es war grauenvoll, und ich spreche nicht gern darüber.«
Melisande verließ ihre Kammer, in die Erhard Füger ihr ein Schreibpult hatte bringen lassen, lief die Stiege hinab und trat auf den Hof. Sie suchte nach Wendel, um ihm Bescheid zu geben, dass die Rechnung fertig war. Da war er! Er stand beim Tor und sprach mit einer jungen Frau. Sie war elegant gekleidet, blond und anmutig wie ein Engel.
Melisande entging nicht, wie die junge Frau Wendel immer wieder bewundernde Blicke zuwarf, die dieser jedoch nicht zu bemerken schien. Sie musste lächeln.
Wendel wandte sich um und entdeckte sie. »Ach, Meister de Willms«, rief er. »Kommt herüber, ich möchte Euch jemanden vorstellen.«
»Aber gern.« Mit wenigen Schritten gesellte Melisande sich zu den beiden.
»Engellin«, sagte Wendel an die junge Frau an seiner Seite gewandt, »das ist Meister Merten de Willms, der Schreiber aus Augsburg, der neuerdings für uns arbeitet. Meister de Willms, das ist Engellin Urban, meine Verlobte.«
Melisande fühlte sich, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Mechanisch lächelte sie. »Sehr erfreut.«
Das Mädchen knickste und strahlte sie an. »Mein Wendel hält große Stücke auf Euch, Meister de Willms. Deshalb freut es mich besonders, Euch kennenzulernen.«
Melisande nickte. »Ganz meinerseits«, sagte sie tonlos. »Doch bitte entschuldigt mich. Ich hatte beinahe vergessen, dass ich noch einen wichtigen Brief verfassen muss. Er soll dem Händlerzug mitgegeben werden, der am Mittag aufbricht. Ich muss mich sputen.«
Sie stolperte über den Hof zurück ins Haus. Benommen taumelte sie die Stufen zu ihrer Kammer hoch und warf sich aufs Bett. Er hatte eine Verlobte. Natürlich. Warum sollte ein Mann wie Wendel keine Verlobte haben? Was störte sie daran? Was hatte das mit ihr zu tun? Sie war nur aus einem Grund hier: um Ottmar de Bruce endlich zur Strecke zu bringen!
***
Weißer Nebel stieg aus den Wiesen und Feldern auf, die Sonne blinzelte durch den Dunst und versprach einen strahlenden Tag. Das Laub funkelte in zarten Gelb- und Rottönen. Seite an Seite ritten Melisande und Wendel durch das Obere Tor, dicht gefolgt von Antonius, der wachsam nach allen Seiten schaute.
Melisande lebte seit einer Woche als Merten de Willms im Haushalt der Fügers, und bereits jetzt war ihr alles so vertraut, als wohne sie seit vielen Jahren dort. Die Stimmung im Haus war gelöst und heiter, der Umgang miteinander voller Achtung und Respekt. Die Schreibarbeit ging Melisande leichter von der Hand als erwartet,
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