Henkerin
Ulrich verfassen, der den Niedergang von Ottmar de Bruce einleiten würde.
Sie hastete hinauf in ihre Kammer und begann sofort mit der Arbeit. Es kostete sie einige Versuche, bis die Farbe der Tinte und die Handschrift in etwa stimmten, doch als sie es heraushatte, lief es wie von selbst.
Ihre Wahl war auf Burkhard von Melchingen gefallen, weil dieser nicht nur bekanntermaßen ein Freund von Graf Ulrich, sondern darüber hinaus vor einigen Tagen zu einer Pilgerreise aufgebrochen war. Ein Schreiben von Melchingens würde Ulrich sicherlich sehr ernst nehmen, auch wenn die Vorwürfe, die darin zum Ausdruck gebracht wurden, ungeheuerlich waren. Zugleich hatte er in den nächsten Monaten keine Gelegenheit, bei seinem Freund nachzufragen.
Schließlich war der Brief fertig. Stolz betrachtete Melisande ihr Werk. Am liebsten wäre sie sofort damit zu Wendel gelaufen, doch sie musste sich gedulden. Die Fügers hatten gerade Besuch. Der alte Urban war zu Gast, der Vater von Wendels Braut.
Der Gedanke an Wendels Hochzeit vertrieb Melisandes Freude über den gelungenen Brief. Engellin mochte ein hübsches und anständiges Mädchen sein, aber sie passte nicht zu Wendel. Das sah selbst ein Blinder. Wendel war ein kluger und leidenschaftlicher Mann, eine Frau wie Engellin würde ihn nur langweilen. Wendel sah es sicher ebenso, auch wenn er nur in den höchsten Tönen von seiner Braut sprach.
Melisande merkte, dass sie die ganze Zeit unruhig in der Kammer auf und ab gelaufen war, und hielt inne. Es war wohl besser, vor die Tore der Stadt zu gehen, um sich zu beruhigen. Außerdem musste sie etwas an ihrer Stimme tun, seit gestern war sie kaum noch heiser. Sie klappte die Schreibfläche hoch und deponierte die Schreibutensilien im Inneren des Pultes. Den Brief versteckte sie im Saum ihres Surcots. Er durfte auf keinen Fall in die falschen Hände geraten.
Es war ein wolkiger, windiger Tag. Die Menschen, denen sie begegnete, grüßten sie freundlich, einige Burschen wechselten ein paar rasche Worte mit ihr. Dann endlich wurde es einsamer, der Weg führte ein Stück durch den Wald auf Eningen zu. Als sie sicher war, dass niemand sich in der Nähe befand, schlug Melisande sich ins Unterholz. Sie versuchte sich an den Schreien verschiedener Vögel, Krähen, Elstern und Dohlen, schreckte ein Reh auf und stieß zu guter Letzt auf einen kleinen Jungen mit einer Steinschleuder, der sie mit großen Augen ansah.
»Jagst du auch Vögel?«, wollte er wissen.
Sie lächelte und legte einen Finger auf die Lippen. »Ich locke sie an mit meinen Rufen«, flüsterte sie.
»Verstehe.« Er zwinkerte verständnisvoll.
Von irgendwoher rief ein Mann. Erschrocken schlug der Junge die Hand vor den Mund. »Mein Vater. Er sucht mich.«
»Dann spute dich, Kleiner, und viel Glück noch bei der Jagd.«
Sie blickte ihm hinterher, ertappte sich bei der Vorstellung, dass es ihr Sohn sein könnte, in einem anderen Leben. Bevor der Gedanke anfing zu schmerzen, wandte sie sich ab und lief zurück nach Reutlingen.
Wendel erwartete sie vor dem Haus, lief ihr entgegen, als er sie sah. »Hat es geklappt?«, raunte er.
»Komm mit«, erwiderte Melisande, nahm ihn am Arm, ließ ihn aber sofort wieder los, als sie merkte, dass ihr von der Berührung schwindelig wurde.
Sie gingen hinauf in ihre Kammer. Melisande schob den Riegel vor die Tür und zog den Brief aus dem Saum.
Neugierig überflog Wendel den Inhalt. Dann schaute er sie an und grinste. »Wenn Graf Ulrich daraufhin nicht sogleich zur Adlerburg aufbricht, dann ist er nicht der Mann, für den ich ihn halte!«, rief er zufrieden aus. »Der Brief ist perfekt. Merten, du bist wahrhaft ein Meister deines Faches.« Er runzelte die Stirn. »Wie bist du eigentlich an das Siegel gekommen?«
»Frag lieber nicht. Je weniger du weißt, desto besser.«
»Aber es ist niemand zu Schaden gekommen?«, fragte er scharf.
»Natürlich nicht!« Was ein empörter Ausruf hatte werden sollen, wurde nicht mehr als ein heiseres Krächzen. Das Schreien im Wald hatte gewirkt.
»Entschuldige bitte, mein Freund«, sagte Wendel und klopfte ihr auf die Schulter. »Ich wollte dir nichts Böses unterstellen.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Dann werde ich mein Kunstwerk jetzt vollenden.« Sie ließ sich den Brief geben und faltete ihn sorgfältig zusammen. Mit einem Kienspan erhitzte sie behutsam das Wachs an der Unterseite des Siegels und drückte es auf das gefaltete Pergament. Sie reichte Wendel den Brief. »Wann bricht der Kaufmann
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