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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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noch so manche Seele retten können. Wie oft hatte er anderen zumindest einen schnellen Tod bereitet und ihnen damit stundenlange, manchmal tagelange Qualen erspart.
    Elle für Elle pirschte er sich an die Schlucht heran. Blieb liegen, lauschte, schob sich wieder ein Stück vorwärts. Der auffrischende Wind trug Geräusche zu ihm herüber. Knurren und Brummen. Ein Jaulen. Auf halber Höhe suchte er sich einen Platz, von dem aus er den Hohlweg gut einsehen konnte. Der Lärm kam von einem Bären und einem Rudel Wölfe, die sich um die Kadaver balgten. Der Bär hatte sich auf die Hinterpranken erhoben, fletschte die Zähne und brüllte. Die Wölfe duckten sich, knurrten, zeigten ebenfalls ihr weiß blitzendes Gebiss, aber sie flohen nicht.
    Raimund musste grinsen. Da war die Tafel reichlich gedeckt für alle, aber keiner konnte fressen, weil jeder dem anderen die Beute abspenstig machte. Wir Menschen sind nicht besser, dachte er.
    Als hätten die Tiere seine Gedanken gelesen, verzogen sie sich jeweils an ein Ende der Schlucht. Der Bär schlug seine Reißzähne in ein totes Pferd, riss einen Fetzen heraus und würgte ihn herunter, wobei er sich immer wieder nach allen Richtungen umsah. Die Wölfe zerrten an einem Söldner und schluckten, ohne zu kauen.
    Raimund hielt nach einem Lebenszeichen Ausschau, aber er konnte nichts entdecken. Diese armen Seelen würden Höllenqualen leiden, denn ihre Körper waren nicht beerdigt, und so mussten sie ohne Hoffnung auf Erlösung in der Zwischenwelt umherirren. »Herr.« Er schlug das Kreuz. »Nimm die Gerechten bei dir auf und wirf die Sünder in die Hölle.«
    Er wollte sich gerade aus dem Staub machen, als ihm etwas auffiel. Wo die Wölfe speisten, lagen zehn oder zwölf Männer übereinander. Angreifer allesamt.
    Er rief sich die Schlacht vor Augen: De Bruce’ Armee hatte aus Söldnern und aus seiner Leibgarde bestanden, seinen besten Kämpfern, die ihm treu ergeben war. Er zählte die Toten. Und plötzlich begriff er: De Bruce hatte die wenigen angeworbenen Söldner, die die Schlacht überlebt hatten, von seinen Männern niedermetzeln lassen. Das sparte Geld, und zudem war ein toter Söldner ein schlechter Zeuge, dafür aber eine gute Ablenkung. Von de Bruce’ eigenen Gefallenen fehlte jede Spur. Seine Getreuen hatten ihre Toten sowie all ihre Waffen und Pfeile mitgenommen und damit jeden Hinweis auf ihre Anwesenheit auf dem Schlachtfeld getilgt. Stattdessen trugen die ermordeten Söldner Trachten, als gehörten sie zum Gefolge von Friedrich von der Kronenburg, einem Raubritter übelster Sorte. Seine Feldzeichen, Wimpel und Fahnen lagen überall verstreut. Die Esslinger würden nur zu gerne glauben, dass dieser Verbrecher hinter dem Überfall steckte; sie würden womöglich sogar eine Fehde beginnen und die Kronenburg dem Erdboden gleichmachen. De Bruce hatte einen ausgesprochen guten Sündenbock gewählt – und hatte zugleich einen Gegenspieler weniger.
    Wahrhaftig, dieser Unhold hatte das Zeug zu einem mächtigen Herrscher. Und dennoch hatte er sein Ziel, die Familie Wilhelmis auszulöschen, nicht erreicht. Weil er, Raimund Magnus, der Geringste von allen, der Henker, dem großen Burggrafen einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.
    Einen Moment lang freute sich Raimund, dann fuhr ihm erneut die Angst in die Glieder. Er schaute an sich hinab. Sein Umhang. Was, wenn de Bruce ihn auf der Lichtung gesehen hatte? So konnte er nicht in die Stadt zurückkehren.
    Raimund überlegte. Hierher würden de Bruce’ Schergen nicht mehr zurückkehren. Zu groß war die Gefahr, von anderen Reisenden gesehen zu werden, und dann wären alle Täuschungsmanöver vergebens gewesen. Vermutlich war dieses Tal des Todes im Augenblick der sicherste Ort weit und breit. Raimund zögerte nicht länger, stieg hinab in die Schlucht, schlug mit dem Feuerstein Funken und entfachte mit geübten Handgriffen ein Feuer. Wölfe und Bär verzogen sich widerwillig.
    Raimund warf den Umhang in die Flammen. Der Anblick des brennenden Stoffes stimmte ihn traurig. Das Kleidungsstück hatte ihm gute Dienste geleistet, wenn er unerkannt umherziehen wollte, was ihm eigentlich streng verboten war. Er war dazu verpflichtet, bunte Gewänder und ein grün-rot-blaues Tuch zu tragen, sobald er sein Haus verließ, damit jeder sofort wusste, mit wem er es zu tun hatte, und ihm ausweichen konnte. Doch manchmal zog er es vor, nicht erkannt zu werden. Menschen, die einen dunklen Wollumhang trugen, gab es viele. Diesen

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