Henkerin
Gebüsch, das den Eingang der Höhle den Blicken Neugieriger entzog, bog die letzten Zweige zur Seite und krabbelte ins Freie.
Sie richtete sich auf, ging noch ein paar Schritte und hielt am Rand des steilen Felsens an, der in halber Höhe über dem Tal thronte. Der Mond spiegelte sich im Neckar, die warme Sommerluft duftete nach dem Nektar Tausender Blüten. Eine Träne stahl sich Melisandes Wange hinunter. Mit einem Mal fühlte sie die Schönheit des Flusses, des Mondes und des Waldes wie noch niemals zuvor. Mit einem Mal ahnte sie die unbändige Kraft in ihrem Körper, in ihrem Geist und in ihrer Seele.
Sie faltete die Hände. »Mein Vater, der du bist im Himmel, immerdar. Dein Werk kann durch nichts übertroffen werden, was du willst, geschieht auch, denn du bist mein Herr und mein Hirte, und du kannst nicht fehlgehen. Deine Güte ist unendlich, deine Weisheit unergründlich. Du warst schon immer und wirst immer sein. Gib mir die Kraft und die Weisheit, alles richtig zu machen. Und sage meinen Lieben, die bestimmt schon bei dir sind, dass alles gut wird.«
Das Gebet gefiel ihr gut, es war anders als alle, die sie bisher gesprochen hatte. Sie setzte sich in den Schneidersitz und richtete die Augen in den Himmel, wo zwischen den Kronen der Bäume unzählige Sterne glitzerten. »Sage mir, was richtig ist. Soll ich Ottmar de Bruce richten, so wie meine Mutter mir es aufgetragen hat? Soll ich Raimund gehorchen? Oder soll ich Esslingen verlassen? Lieber Gott, ich flehe dich an, gib mir ein Zeichen!«
Sie zählte ihre Herzschläge. Bei dreihundert würde sie sich auf den Weg machen, dann würde der Herrgott schweigen, und sie musste selbst entscheiden.
Als sie bei einhundertsechsundachtzig angekommen war, hoppelte ein Hase keine fünf Ellen neben ihr vorbei. Er ließ sich auf die Hinterläufe fallen, streckte die Löffel in die Luft und blieb einen Moment so sitzen. Als hätte der Blitz eingeschlagen, rannte er plötzlich Haken schlagend den Abhang hinauf. Im gleichen Augenblick hörte Melisande das Rauschen. Ein Dämon stürzte vom Himmel herab, den Hasen zu schlagen. Die Schwingen waren breiter, als Melisande groß war; der Ruf fuhr ihr durch Mark und Bein. Der Todesvogel stieß herab, ein Uhu, dessen Augen gelb leuchteten, gelb wie der Schwefel in der Hölle, aus der er stammte.
Das war das Zeichen! Jetzt musste sie das Tierrätsel nur noch entschlüsseln, das ihr der Allmächtige geschickt hatte: der Hase, der sich nur retten konnte, wenn er sich in Höhlen versteckte, der hinaufmusste, damit er seine langen Hinterbeine dazu nutzen konnte, dem Feind zu entfliehen. Denn den Berg hinab, so sagte man, würde er in sein Verderben rennen. Auch David hatte gesagt: »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher mir Hilfe kommen wird.«
Oh ja, sie kannte sich mit der Deutung von Tierzeichen gut aus. Mutter hatte sie ihr immer wieder erklärt. Sie atmete auf. Gott hatte zu ihr gesprochen, klar und deutlich. Heute Nacht war sie der Hase, und der Hase musste de Bruce und seinen Schergen entfliehen, um dann, wenn die Zeit gekommen war, zum Todesboten zu werden, um selbst hinabzustoßen und den Mörder in die Hölle zu werfen.
Plötzlich fühlte Melisande sich ruhig und sicher. Sie war nicht allein. Gott hatte zu ihr gesprochen.
Da! Ein anderes Geräusch. Ein Knacken und ein Schnaufen. Aber nicht von einem Wolf und auch nicht von einem Bären. Dieses Geräusch stammte von dem gefährlichsten Raubtier überhaupt. Von einem Menschen. Sie musste sofort wieder zurück in die Höhle!
Hastig kroch sie rückwärts in das Gebüsch, richtete sich auf und versuchte, den Eingang freizumachen. Der Stein rührte sich nicht. Verzweifelt presste sie ihre Hände gegen die raue Oberfläche, doch nichts geschah. All ihre Kraft brachte den Stein nicht dazu, sich auch nur einen Zoll weit zu bewegen. Sie hatte sich selbst ausgesperrt. Hätte sie doch nur irgendetwas in den Spalt geklemmt! Jetzt war es zu spät. Wenn sie Pech hatte, würde sie bald wie ein unvorsichtiger Hase über dem Rücken der Jäger hängen.
Äste knackten, Schritte kamen näher. Waffen klirrten leise, Stimmen drangen über den steilen Hang. »Verdammte Göre, deretwegen ich mir die Nacht um die Ohren schlagen muss«, schimpfte eine.
»Ich läge auch lieber bei einem Weibe, als mich hier durch den Busch zu schlagen«, brummte eine andere.
Söldner im Dienst von Ottmar de Bruce, die auf der Suche nach ihr waren!
»Gott! Hilf mir«, flehte Melisande lautlos. Dieses
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